Verständigung und Demokratie bezeichnet Gesine Schwan als ihre Lebensthemen. Um Kommunen für die Bewältigung aktueller Krisen und für die Umsetzung von Transformationsprozessen zu stärken, empfiehlt sie die Einrichtung Kommunaler Entwicklungsbeiräte.

Frau Dr. Schwan, mit Ihrem Modell der Kommunalen Entwicklungsbeiräte setzen Sie sich für mehr Partizipation ein. Politik, Verwaltung, Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft und der Wirtschaft sollen gemeinsam Perspektiven für die Entwicklung ihrer Kommune entwerfen. Vor welchem Hintergrund haben Sie das Konzept erarbeitet?
Ich habe mich mit dem Konzept demokratischer Partizipation über längere Zeit nur als demokratietheoretisches Thema beschäftigt. Als es aber im Jahr 2015 darum ging, die Aufnahme und Integration von Geflüchteten zu verbessern, schien mir eine stärkere demokratische Partizipation auf kommunaler Ebene ein wichtiger Baustein zu sein. Dabei war mir klar, dass es wichtig sein würde, dass die Kommunen ihre Entscheidungen in der Bevölkerung verankern, um eine breite Legitimation zu erlangen. Grundsätzlich gilt, dass es am ehesten gelingt, Bürgerinnen und Bürgern die Angst vor Problemen und generell vor der Zukunft zu nehmen, wenn man sie an den anfallenden langfristigen Entscheidungen beteiligt.

Kommunen werden oft als Keimzellen der Demokratie bezeichnet. Gleichzeitig lassen die seit Jahren sinkende Wahlbeteiligung und das allgemein abnehmende Vertrauen der Bürger in das politische System darauf schließen, dass sich die Demokratie in einer Krise befindet. Können Kommunen dem über Angebote der Bürgerbeteiligung entgegenwirken?
Ja, das können sie. Dabei möchte ich betonen, dass Demokratie nicht allein eine Verfahrensfrage ist. In der Demokratie geht es auch darum, Werte zu vermitteln: die Würde des Menschen, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. In Kommunalen Entwicklungsbeiräten kommen Vertreter verschiedener Interessengruppen zusammen, um ihre individuellen Themen und Ziele darzulegen und in der Gruppe zu überlegen, wie diese Partikularinteressen miteinander vereinbar sein könnten. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Bedürfnisse der einzelnen Gruppen in der lokalen Politik berücksichtigt werden. Ziel ist es also, über das Gremium eines Entwicklungsbeirats den Output der demokratischen Entscheidungen zu verbessern und damit natürlich auch das Vertrauen in die Demokratie zu stärken.

Krisenbewältigung und Transformationsprozesse

Sie erwähnten schon, dass Sie das Konzept der Entwicklungsbeiräte im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise entwickelt haben. Wo sehen Sie darüber hinaus geeignete Themenfelder?
Grundsätzlich bieten sich Entwicklungsbeiräte dort an, wo es um zukunftsrelevante Themen geht, wo zukünftige Entwicklungen vorbereitet werden und wo Anforderungen zusammen gedacht werden müssen. Dabei kann es um die Bewältigung aktueller Krisen gehen oder auch um Transformationsprozesse der Städte und Gemeinden. Möglichkeiten der Partizipation, Berücksichtigung von Partikularinteressen, Gemeinwohlorientierung und das Erreichen der Ziele für eine nachhaltige Entwicklung – diesen vier verschiedenen Anforderungen entspricht das Modell der kommunalen Entwicklungsbeiräte.

Im März hat die Stadt Herne als Modellkommune einen Kommunalen Entwicklungsbeirat ins Leben gerufen und Ihre NGO, die Berlin Governance Platform, hat das Projekt begleitet. Worum ging es in Herne?
In Herne ging es um die Neugestaltung des ehemaligen Zechengeländes General Blumenthal. Wir haben gemeinsam mit 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der organisierten Zivilgesellschaft, der Wirtschaft, der Politik und Verwaltung vier Workshops in Präsenz und ein Zoommeeting durchgeführt. Mit dabei waren Vertreter der IHK, des BUND, der Bürgerinitiative Stadtwald Herne, Unternehmensvertreter, ein Jugendbeirat, eine Kinderanwältin, Vertreter von Senioren und Sportvereinen – um nur einige zu nennen. Alle zusammen sollten die Breite der Gesellschaft in Herne abdecken. Diese Bandbreite spiegelte sich auch inhaltlich wider: Während sich die einen für die Biotope und Artenvielfalt auf der Fläche stark machten, wollten andere einen Ort für generationsübergreifendes Miteinander oder für gute Arbeitsplätze schaffen.

Gemeinwohlorientierung steht im Vordergrund

Da kommt es sicherlich schnell zu Zielkonflikten. Wie ist es möglich, dass der Beirat am Ende zu einem Ergebnis kommt, dem alle zustimmen?
Das ist ein Prozess, der gut moderiert werden muss. In Herne bauten sich tatsächlich zu Beginn erhebliche Fronten auf: Die einen wollten das Gelände für Maßnahmen der Wirtschaftsförderung nutzen, die anderen setzten sich für das Wohl von Fröschen ein. Da hieß es dann plötzlich, man müsse sich entscheiden: Arbeitsplätze oder Frösche? Die im Entwicklungsbeirat verankerte Forderung nach Gemeinwohlorientierung machte dann schnell klar, dass der Schutz der Frösche ein Ziel war, das für Biodiversität stand, auf das man sich einigen konnte, weil dies übergeordneter Natur war. Damit eröffneten sich dann auch tatsächlich gleich mehrere alternative Wege. So wurden in dem Prozess zwischendurch immer wieder Eckpunkte für Visionen formuliert. Natürlich hat der Austausch im Entwicklungsbeirat auch für eine lebendige stadtinterne Diskussion gesorgt. Als letzten Schritt legt jetzt der Beirat seine Empfehlung für die Entwicklung der Fläche vor, über deren Umsetzung schließlich der Rat der Stadt Herne entscheiden muss.

Wird sich der Kommunale Entwicklungsbeirat in Herne auflösen, wenn das Projekt „Zechengelände General Blumenthal“ abgeschlossen ist?
Das Konzept der Kommunalen Entwicklungsbeiräte sieht vor, dass der Entwicklungsbeirat auch nach Projektabschluss erhalten bleibt und als kontinuierlich arbeitende Institution verankert wird. Über den Beirat sollen die Bürger mit der Verwaltung in Kontakt bleiben. Ob die dauerhafte Etablierung des Entwicklungsbeirats in Herne aber tatsächlich geschehen wird, ist noch offen, denn manche scheuen die daraus entstehenden laufenden Kosten. Das ist ein entscheidender Faktor, und es ist wichtig, hier ehrlich über die finanzielle Seite zu sprechen. Allerdings muss man sich über eines im Klaren sein. Die Demokratisierung von Kommunen kostet Geld! Aber die Verantwortlichen reißen sich nicht um dieses Thema. Das weiß ich. Dabei kann eine gute Vorbereitung auch wieder Zeit und Geld bei der Entscheidung sparen.

Förderung durch die E.ON Stiftung

Wieviel Geld musste die Stadt Herne denn bislang investieren?
Das Projekt der Stadt Herne wurde mit 50.000 Euro durch die E.ON Stiftung gefördert. Um diese Förderung zu erhalten, musste die Stadt ein relativ aufwendiges Empfehlungsschreiben erarbeiten. Das hat einigen personellen Aufwand erfordert. Um den Kommunalen Entwicklungsbeirat schließlich mit Leben zu füllen, stellte die Stadt eine Person, die sich intensiv um das Projekt gekümmert und eng mit dem Bürgermeister zusammengearbeitet hat. Sie war für Zukunftsfragen der Stadt Herne angestellt, benötigte dafür ein Büro und darüber hinaus die für ihre Arbeit erforderliche Infrastruktur. Zudem brauchte der Beirat Moderatoren, die hier pro bono arbeiteten, und eine insgesamt sorgfältige Betreuung, die die E.ON Stiftung finanziert hat. Das kostet also Geld, aber eines ist sicher: Die Mittel, die eine Stadt in die partizipatorische Vorbereitung eines Entwicklungsprojektes investiert, zahlen sich später aus, weil es dann ohne juristischen Widerstand leichter und schneller implementiert werden kann. In Herne haben sich überdies vier Investoren gemeldet, weil sie über unseren Entwicklungsbeirat auf das Projekt aufmerksam wurden.

Aber meinen Sie, dass das Interesse der Investoren tatsächlich im Zusammenhang mit dem Beirat steht?
Ich denke schon. Die Investoren werden sehen: Wandel gelingt nur, wenn die Gesellschaft die Erfahrung macht, dass sie den Wandel mitgestalten kann. Das, was an Bildung nötig ist und sich beim Kommunalen Entwicklungsbeirat ergibt, ist das Verständnis für die Sichtweise anderer. Die Räte laden dazu ein, sich in andere Logiken einzudenken. Das hat einen enormen politischen Wert und ist für den Erfolg eines Transformationsprozesses entscheidend.

v.wilke@derneuekaemmerer.de

Info

Das hier veröffentlichte Interview ist zuerst in der aktuellen Zeitungsausgabe 4/2022 von Der Neue Kämmerer erschienen. Hier geht es zum Abo und hier zur Newsletter-Anmeldung.

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