Die Tarifverhandlungen für 2023 im öffentlichen Dienst haben mit einem „Paukenschlag mit Ansage“ begonnen. Dieser hat Parallelen zu 1974.

Vor wenigen Wochen stellten die Gewerkschaften ihre Tarifforderung für den öffentlichen Dienst für das kommende Jahr vor: 10,5 Prozent, mindestens 500 Euro bei einer Laufzeit von zwölf Monaten. Es war ein Paukenschlag mit Ansage. Man muss weit zurückgehen, um Vergleichbares zu finden.

Tatsächlich kam es letztmals im Jahr 1974 zu einer Forderung von 14 bis 15 Prozent der damals noch zwei Gewerkschaften. Auch zum damaligen Zeitpunkt wurde diese Zahl mit der Energiekrise und der Inflation begründet, eine auffällige Parallele. Die Argumente beider Seiten waren auch jetzt zu erwarten. Die Gewerkschaften betonen die hohen Inflationsraten und wollen die Kaufkraft erhalten. Hinzu kommen die ohnehin hohe Belastung der Beschäftigten und der notorische Personalmangel.

Warum nun gerade der öffentliche Dienst als dann wahrscheinlich einzige Berufsgruppe vor einem Reallohnverlust geschützt werden sollte und worin die hohe Krisenbelastung in der Breite des Personals bestehen soll, bleibt allerdings offen.

Warum nun gerade der öffentliche Dienst als dann wahrscheinlich einzige Berufsgruppe vor einem Reallohnverlust geschützt werden sollte und worin die hohe Krisenbelastung in der Breite des Personals bestehen soll, bleibt allerdings offen. Ebenso erwartbar ist die Reaktion der Arbeitgeber. Natürlich habe man Verständnis für die wirtschaftliche Lage der Beschäftigten, man weist aber auf die begrenzten Mittel der Kommunen und die unabsehbaren Folgen zu hoher Tarifabschlüsse hin.

Dass die Steuern aktuell und in den kommenden Jahren noch steigen und die Rücklagen Rekordniveau erreichen werden, lässt man auch hier gern aus. Diese Statements folgen dem üblichen Ablauf von Tarifverhandlungen, die letztlich erwartbar und hochritualisiert verlaufen. Gut bekannte Akteure treffen in regelmäßigen Abständen aufeinander, mit stets ähnlichen Positionen und Argumenten. Konflikte werden teils kalkuliert für die eigenen Mitglieder inszeniert, am Ende steht ein Ergebnis, das für beide Seiten natürlich „gerade noch verkraftbar“ ist.

Kommunen als Arbeitgeber

In den vergangenen zehn Jahren konnten beide Seiten mit den Tarifabschlüssen gut leben. Im Durchschnitt der Jahre 2011 bis 2021 stand ein Plus von 2,5 Prozent – angesichts einer Inflationsrate von nur 1,4 Prozent ein deutlicher Zuwachs an Kaufkraft für die Beschäftigten. Für die Kommunen als Arbeitgeber lag der Anstieg der Personalausgaben insgesamt deutlich höher. Denn im Gegensatz zu dem von den Gewerkschaften gern gezeichneten Bild des „kaputtgesparten“ öffentlichen Dienstes wächst die Stellenzahl seit langem an.

Im Ergebnis stiegen die Personalausgaben damit über viele Jahre um mehr als 5 Prozent jährlich. Bereits diese Dynamik wäre für die Kämmereien ein Problem gewesen, wenn nicht die Konjunktur und damit die Steuereinnahmen so positiv ausgefallen wären. Der Anstieg der Personalausgaben verlief parallel, und deren Anteil an den Gesamtausgaben blieb in der vergangenen Dekade somit stabil bei rund 26 Prozent. Ein glücklicher Zufall. Dass diese Situation nicht dauerhaft anhalten konnte, war wohl jedem klar. Die Stellen- und die Ausgabenentwicklung waren auf Sand gebaut.

Die teils sorglosen Vorjahre sind vorbei

Mit dem russischen Angriffskrieg und seinen Folgen laufen die kommenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst nun vor einer geänderten Realität ab. Der Erhalt der Kaufkraft und die Grenzen der Haushalte, wie gesagt ritualisierte Positionen, gewinnen eine völlig andere Relevanz als in den wirtschaftlich teils sorglosen Vorjahren. Um die Kaufkraft angesichts der Inflation zu erhalten, müssen die Gewerkschaften Forderungen von über 10 Prozent stellen. Der Sockelbetrag (auch den gab es schon 1974) ist mittlerweile Tradition. Er geht mit 500 Euro jedoch weit über besagten Prozentsatz hinaus und bedeutet auf den unteren Entgeltgruppen bis zu 20 Prozent Lohnerhöhung.

Tatsächlich ist dieser Sockelbetrag so hoch bemessen, dass er wohl für 90 Prozent der Beschäftigten greifen würde. Im Durchschnitt betrüge die Tariferhöhung um die 15 Prozent. Für die Kommunen bedeutete dies Mehrausgaben von geschätzt 15 Milliarden Euro jährlich. In der Realität wären die Mehrausgaben noch höher, denn der Zuwachs an Stellen ginge ja weiter. Der Ausgabensprung entspräche damit dem Anstieg der fünf Vorjahre zusammen.

Bei den Kommunen fiele der Anstieg unterschiedlich aus, je nachdem, wie sich die Struktur der Entgeltgruppen gestaltet. In kleinen Gemeinden mit flacherem Stellenkegel wäre der Anstieg prozentual höher. Aber halt! Wie wir wissen, wird der Abschluss so hoch nicht ausfallen.

Zu den Besonderheiten unserer Tage gehört, dass die Steuereinnahmen trotz der aufziehenden Konjunkturwolken 2022 noch kräftig steigen und auch die Prognose für die kommenden Jahre positiv aussieht.

Zu den Besonderheiten unserer Tage gehört, dass die Steuereinnahmen trotz der aufziehenden Konjunkturwolken 2022 noch kräftig steigen und auch die Prognose für die kommenden Jahre positiv aussieht, ein Umstand, auf den die Gewerkschaften nachvollziehbar gern verweisen. Tatsächlich ist es mit dem reinen Blick auf die Inflation gar nicht unwahrscheinlich, dass die Kommunen per saldo sogar profitieren werden. Die Risiken liegen anderswo.

Ein Einbruch der Konjunktur ist höchstwahrscheinlich, worauf besonders die Gewerbesteuer sensibel reagiert und was auch die Umsatzsteuer bremsen würde. Hinzu kommen die absehbar weiteren Ausgabenanstiege im sozialen Bereich und beim Sachaufwand an sich. Die Unsicherheiten der Haushaltsplanung sind enorm. Die rationale Strategie der Kämmereien besteht darin, Ausgabenanstiege so weit wie möglich zu bremsen, Projekte zu verschieben und „Windfall-Profits“, z.B. nicht besetzte Stellen und ausgefallene Investitionen, einzustreichen.

Härtere Verhandlungen als 2020

Was kann man angesichts dieser Lage von den Verhandlungen erwarten? Es werden härtere Verhandlungen als 2020, als die Gewerkschaften angesichts der Coronapandemie bescheiden waren. Am Ende wird es einen Kompromiss geben.

Der Instrumentenkasten der Tarifverhandlungen ist groß: Einmalzahlungen, Zulagen, Erhöhungen differenziert nach Berufs- oder Entgeltgruppen, stufenweise Erhöhungen, eine längere Laufzeit sind beliebte Variablen. Für die Gewerkschaften ist das Ziel, eine möglichst hohe einstellige Zahl zu erreichen. Ein Reallohnverlust ist letztlich unvermeidbar. Die Kommunen werden versuchen, die Tariferhöhungen möglichst differenziert zu gestalten, um dauerhafte Mehrkosten für ihr Gesamtpersonal zu vermeiden. Eines lässt sich wohl mit Sicherheit sagen: Eine Eskalation wie 1974 und einen Abschluss von 11 Prozent wird es nicht geben.

rene.geissler@th-wildau.de

Autor

René Geißler ist Professor für öffentliche Verwaltung an der TH Wildau.

Info

Der Gastbeitrag ist zuerst in der aktuellen Zeitungsausgabe von Der Neue Kämmerer 4/2022 erschienen. Hier geht es zum Abo und hier zur Newsletter-Anmeldung.

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