Frau Welge, Sie sind seit mehr als 30 Jahren in der Kommunalverwaltung aktiv; zunächst waren Sie Kämmerin am Niederrhein, dann Sozialdezernentin und später Kämmerin in Gelsenkirchen und seit November 2020 erste Oberbürgermeisterin in der Stadtgeschichte Gelsenkirchens – sehen Sie sich als eine Vorreiterin?
Es hilft mir in Debatten, verschiedene Brillen aufzuhaben und die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu kennen. Den Wahlkampf in Gelsenkirchen habe ich als Frau als brutal empfunden. Dieser Stadt sind Herausforderungen nicht fremd. Deswegen wollte ich auch gerade hier ein Zeichen setzen. Als Vorreiterin habe ich mich nie gesehen, aber ich hoffe, dass ich anderen Frauen ein Beispiel sein kann. Gelsenkirchen hat mir – als Frau – die Chance gegeben, Oberbürgermeisterin zu werden. Das bedeutet mir viel, und gerade in einer sehr männlichen, durch den Bergbau geprägten Stadt ist das eine Herausforderung, die ich gerne annehme – und ein Privileg, das ich zu schätzen weiß.
Wie gelang Ihnen der Einstieg ins Berufsleben, und wie sind Sie von der Juristin zur Kämmerin geworden?
Ich habe meine Karriere überhaupt nicht geplant. Als gebürtige Saarländerin habe ich zunächst am deutsch-französischen Lehrstuhl in Saarbrücken allgemeines Staatsrecht unterrichtet. Während meines Referendariats habe ich meinen Mann kennengelernt, geheiratet, bin Mutter geworden und nach Bonn gezogen.
Zu Karrierebeginn gab es keine gewählten Kämmerinnen in NRW
Mussten Sie zu Beginn Ihrer beruflichen Laufbahn aktiv gegen Vorurteile angehen?
Als ich in Bonn im Bundestag zum Vorstellungsgespräch eingeladen war, musste ich mir aus heutiger Sicht schon ziemlich blöde Sprüche anhören – nach dem Motto: „Bei dem Zeugnis konnten Sie wohl gut mit dem Prof …“. Drei Wochen lang habe ich nichts mehr gehört, dann kam die Zusage für die Stelle. Das ist schon Jahrzehnte her, aber das hat mich damals angestochen. Nach eineinhalb Jahren bin ich aus familiären Gründen zur Hochschule für Polizei und Verwaltung gewechselt, denn dort konnte ich halbtags arbeiten. Es hat zwei Monate gedauert, bis ich dort gegrüßt, zwei weitere bis ich akzeptiert wurde und dann hat es noch mal zwei Monate gebraucht, bis mir Kollegen Fachfragen stellten. Ich war es von Beginn an gewohnt, auf Strukturen zu stoßen, die ich nicht immer für modern gehalten habe.
Welche Änderungen nehmen Sie im Zeitverlauf wahr?
Heute sehe ich bei meinen zwei erwachsenen Töchtern, dass diese viel selbstverständlicher ihren Weg gehen können. In Nordrhein-Westfalen hat es zum Beispiel zu Beginn meines Berufslebens überhaupt keine gewählten Kämmerinnen gegeben. Bei meiner ersten Stelle als Kämmerin in Xanten kam ich mir von den Ratsmitgliedern schon sehr beäugt vor. Sie waren aber nicht unfair, sondern eher neugierig zurückhaltend. Mein Prinzip, das ich aus all diesen Erfahrungen abgeleitet habe, lautet: „Lass jedem die Chance, Dich kennenzulernen!“. Das Geschlecht sollte im Arbeitsleben einfach nicht zum Schwerpunkt gemacht werden.
Info
Lesen Sie Morgen im zweiten Zeil des Interviews Online warum Kämmerinnen auch heute noch eher in den kleineren Städten zu finden sind und welche Veränderungen es laut Karin Welge noch braucht.Das vollständige Gespräch mit Karin Welge ist in der Ausgabe 3/2021 von Der Neue Kämmerer erschienen.
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