Frau Welge, Sie hatten bereits Ihren Karrierestart als Kämmerin am Niederrhein erwähnt, warum arbeiten Kämmerinnen auch heute offenbar noch immer häufiger eher in den kleineren Städten?
Xanten war für mich als Mutter mit zwei kleinen Kindern ganz klar ein Wohlfühlstandort für Familien. Meine Töchter haben sich dort auch schnell zu Hause gefühlt, und ich habe mir gedacht, ich probiere das jetzt aus! An der Hochschule habe ich sehr theorielastig gearbeitet, da war der Weg in die Praxis für mich eine willkommene Abwechslung. Ich vermute, dass Frauen vielfach auch heute noch ähnlich denken. Vielleicht liegt es auch daran, dass man in den kleineren Städten sein Können als Kämmerin leichter unter Beweis stellen kann, beziehungsweise daran, dass Erfolge schneller sichtbar werden. In Xanten habe ich die Erfahrung gemacht, dass schnell erkannt wurde: „Die kann was“. Daraus ist gegenseitiger Respekt und Achtung erwachsen.
In der Gruppe der zehn größten Städte Deutschlands gibt es derzeit zwei Kämmerinnen. Warum müssen heute noch Schritte unternommen werden, damit es künftig noch selbstverständlicher wird, dass Frauen in die oberste Führungsetage der Kommunalverwaltungen kommen?
Es stimmt, dass wir in vielen Dingen auch heute, 25 Jahre später, nicht so weit gekommen sind, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass Frauen häufig nicht so gut darin sind, Netzwerke zu knüpfen und sich auch nicht immer gegenseitig guttun. Ich frage mich: Wann herrscht eigentlich Gleichberechtigung? Warum differenzieren wir überhaupt? In den Großstädten ist das politische Klima zudem deutlich aufgeheizter als in den kleineren. Frauen müssen dort mehr Mut aufbringen, vor allem den Mut zur Lücke. Doch ich sehe auch ganz klare Fortschritte. Junge Frauen unter 40 gehen heute mit ihrer Karriereplanung ganz anders um als die Generation vor ihnen. Es gibt heute ganz neue Familienbilder. Insgesamt ist der weibliche Nachwuchs sowohl in den Kämmereien als auch bei anderen Führungsjobs in den Kommunen deutlich gewachsen. Bis ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis erreicht ist, wird es aber noch eine ganze Weile dauern.
Was hat Ihnen mit Blick auf Ihre Karriereschritte weitergeholfen?
Generell gilt, wenn man im Berufsleben nur Schwächere und Freunde um sich schart, dann gibt es keinen Fortschritt. Ich habe mich nie als Frauenrechtlerin gefühlt. Ich komme aus dem engen ländlichen Raum im Saarland, hatte aber das Glück, dass mir meine Eltern Schüleraustausche mit Frankreich und den USA ermöglicht haben. In meinem Umfeld bin ich immer wieder von Menschen sowohl positiv als auch negativ inspiriert worden. Das hat mich neugierig bleiben lassen und mir Weiterentwicklung gebracht. Im Beruf habe ich immer dazugelernt – erst kürzlich im Oberbürgermeisterwahlkampf. Er ist viel werblicher und offener als alles, was ich zuvor gemacht habe. Als Kämmerin stand ich ja eher in der zweiten Reihe.
Kämmerei lässt sich nicht auf Zahlen reduzieren
Was können Sie aus Ihrer heutigen Position heraus für Kolleginnen tun? Setzen Sie sich dafür ein, dass auch Frauen der Weg in Spitzenpositionen ermöglicht wird?
Ich versuche immer wieder, Frauen anzuspornen und zu begeistern. Häufig schlagen mir da auch von Seiten der Frauen typische Vorurteile entgegen. Zum Beispiel die Selbsteinschätzung von Frauen: „Ich kann nicht mit Zahlen“. Mit Blick auf die Kämmerei ist dies geradezu ein doppeltes Vorurteil. Denn die Kämmerei lässt sich nicht auf Zahlen reduzieren, und Frauen sind nicht grundsätzlich schlecht in Mathematik. Ich verstehe das Amt des Kämmerers eher als ein Zusammenflechten der Grundlagen für eine Stadt. Da ist vor allem strategisches Denken gefragt. Kämmerer sind Partner in der Beratung, sie müssen die Prioritäten setzen. Dazu gehören vielfach weniger schöne Aufgaben – auch davor schrecken Frauen nach meiner Erfahrung allzu oft zurück.
Was würden Sie Frauen raten, die Kämmerin werden möchten?
Frauen, traut euch mehr zu! Das Finanzwesen ist nicht dröge und langweilig und auch nicht maskulin. Im Gegenteil, hier dreht sich die Welt der Stadt. Es ist eine strategisch wichtige Position. Gerade in einer so ambivalenten Stadt wie Gelsenkirchen kann man diese Karriereschritte aber nicht am Reißbrett planen. Hier geht es immer auch um den sozialen Frieden und die Sicherung der Demokratie. Es ist immer mehr als genug zu tun – egal in welcher Position.
Gibt es auch etwas, das Sie rückblickend anders machen würden?
Eindeutig ja. Zeitweise hatte ich früher ein schlechtes Gewissen meinen Kindern gegenüber. Viele Jahre war ich alleinerziehend und habe versucht, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Das ist mir nicht immer so gut gelungen, wie ich es mir gewünscht hätte. Heute würde ich das viel deutlicher kommunizieren. Damals habe ich nicht darüber gesprochen. Als Großmutter genieße ich seit rund zwei Jahren die Zeit mit meinem Enkelkind ganz anders – auch wenn ich immer noch zu wenig Zeit habe.
Info
Das vollständige Gespräch mit Karin Welge ist in der Ausgabe 3/2021 von Der Neue Kämmerer erschienen.Mehr über Deutschlands Kämmerinnen finden Sie auf der Themenseite Karriere.