Die Bundesregierung denkt darüber nach, einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr einzuführen, um mehr Menschen dazu zu bringen, vom Auto auf Bus oder Bahn umzusteigen. Offenbar hofft der Bund so, die Stickstoffreduktion in Städten zu reduzieren und eine drohende Klage der EU-Kommission abzuwenden. Dies geht aus einem Brief von Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD), Verkehrsminister Christian Schmidt (CSU) und Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) an die EU-Kommission hervor, der der Nachrichtenagentur dpa vorliegt.
In einer ersten Reaktion zeigte sich der Deutsche Städtetag überrascht über die Überlegungen der Bundesregierung. Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des kommunalen Spitzenverbandes, forderte eine klare Aussage des Bundes, wie der kostenlose ÖPNV finanziert werden solle. Getreu dem Prinzip „Wer bestellt, bezahlt“ sei hier eindeutig der Bund in der Zahlungspflicht.
Ähnlich argumentierte Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes. Er bezeichnete den Vorstoß des Bundes im Gespräch mit dem MDR als "Schnellschuss" und "Ablenkungsmanöver". Eine flächendeckende Umsetzung der Idee sei aktuell "ausgeschlossen".
"Eine Elbphilharmonie pro Jahr"
Auch der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) steht dem Vorstoß der amtierenden Bundesregierung skeptisch gegenüber. Die Verkehrsbetriebe finanzierten sich etwa zur Hälfte aus Ticketerlösen. Wenn diese Einnahmequelle wegfalle, müsse künftig der Steuerzahler das entstandene Loch stopfen. Zusätzlich würden neue Kosten in Milliardenhöhe entstehen, da mehr Fahrgäste unweigerlich zusätzliche Investitionen nach sich ziehen würden, sagte eine VDV-Sprecherin der dpa.
Noch deutlicher wurde der Hamburger Verkehrsverbund (HVV). Gegenüber Spiegel Online sagte ein Sprecher des Unternehmens, dass der Steuerzahler im Falle eines Wegfalls der HVV-Ticketerlöse alleine für Einnahmeausfälle in Höhe von jährlich rund 830 Millionen Euro aufkommen müsse. Das sei in etwa eine Elbphilharmonie pro Jahr.
Differenzierter äußerte sich Aachens Oberbürgermeister Marcel Philipp. Er halte die Initiative der Bundesregierung für ein "wichtiges Signal, zur Entlastung des Stadtverkehrs mehr Förderung in den ÖPNV geben zu wollen". Ein komplett kostenloses Angebot werde allerdings auch in Aachen kaum finanzierbar sein.
In fünf Modellstädten – Bonn, Essen, Herrenberg, Reutlingen und Mannheim – will der Bund nun testen, ob der kostenlose ÖPNV auch tatsächlich die erhofften Effekte erzielt. Der Vorsitzende des Verkehrsverbundes Rhein-Neckar, Christian Specht, der auch Erster Bürgermeister und Kämmerer der Stadt Mannheim ist, bezifferte in der F.A.Z. die Einnahmeausfälle nur für die Stadt Mannheim auf 80 Millionen Euro pro Jahr.