„Wir haben uns endgültig von einem nutzerfinanzierten ÖPNV verabschiedet“

Herr Emanuel: Sie kritisieren das Deutschlandticket vor allem aus finanziellen Gründen. Wie groß ist das Defizit für Ihren Landkreis – und wie wirkt es sich konkret aus?Die Berechnung der Einnahmeausfälle ist in Sachsen eigentlich sehr klar und übersichtlich in der Deutschlandticket-Finanzierungsverordnung 2025 speziell in der „Anlage zu § 5 Absatz 2 Berechnung der ausgleichsfähigen nicht gedeckten Ausgaben“ geregelt. Kurz gesagt, werden dort den fortgeschriebenen Einnahmen des Jahres 2019 die tatsächlichen Einnahmen des Jahres 2025 gegenübergestellt.Allerdings hat diese Fortschreibung wenig mit der tatsächlichen Entwicklung der Ausgaben durch das Deutschlandticket zu tun. Leistungserweiterungen der vergangenen Jahre oder die Umstellung auf das landesweite Bildungsticket haben den ÖPNV im Landkreis dynamisch verändert. Das Jahr 2019 kann damit gar keine realistische Vergleichsbasis mehr bilden. Hinzu kommen noch Unsicherheiten bei Finanzierung und Einnahmeaufteilung des Deutschlandtickets in den Folgejahren – verbunden mit kaum kalkulierbaren Risiken für die Aufgabeträger und Tarifverbünde.Um aber auf die Zahlen zu kommen: Der Zuschuss des Landkreises für die Produkte Schülerbeförderung und ÖPNV hat sich von 6,7 Millionen Euro im Jahr 2019 auf 14 Millionen Euro im Jahr 2025 quasi verdoppelt.Wie hoch wäre Ihrer Einschätzung nach ein fairer Ausgleichsbetrag für die entgangenen Einnahmen – oder ein tragfähiges Finanzierungsmodell?Es geht nicht mehr um Ausgleichsbeträge. Wir haben uns aus meiner Sicht endgültig von einem nutzerfinanzierten ÖPNV verabschiedet. Spätestens mit dem Regionalisierungsgesetz aus dem Jahr 1993 ist der ÖPNV zu einer Aufgabe der grundgesetzlich verankerten Daseinsvorsorge geworden. Mussten früher Konzessionäre bei der Beantragung die Wirtschaftlichkeit ihrer Linie nachweisen, entscheidet heute der Bund mit Zutun der Länder über deutschlandweite Tarife. Spätestens mit dem Deutschlandticket sind wir deshalb in einer steuerfinanzierten ÖPNV-Welt angekommen. Jetzt muss auch der Mut bestehen, die bisherige „Spaghetti-Finanzierung“ durch eine klare Finanzierungsquelle wie beispielsweise die Regionalisierungsmittel zu ersetzen.Wie ist denn die Situation des ÖPNV in Ihrem Landkreis? Wo drückt der Schuh am meisten?Wir halten im Landkreis Nordsachsen ein vertaktetes Grundangebot vor. Es verkehren S-Bahnen im Abstand von 30 Minuten, hinzu kommen Regionalexpresslinien sowie verknüpfte PlusBus- und TaktBus-Linien. Für Taktlücken sowie Randzeiten in den späten Abendstunden und am Wochenende gibt es im Landkreisgebiet mit Flexa ein flächendeckendes on-Demand-Angebot. Das ganze System wurde in den zurückliegenden zehn Jahren kontinuierlich von einer Nachfrage- zu einer Angebotsorientierung hin entwickelt.Parallel machen uns steigende Kosten beispielsweise für Personal, Energie oder Material zu schaffen. Die Fahrgeldeinnahmen entwickeln sich bei Weitem nicht im gleichen Maße wie die Kosten – nicht nur, aber auch durch das günstige Deutschlandticket. Schon jetzt drohen deshalb Kürzungen in unserem ÖPNV-Angebot. Es muss gelingen, dieser Entwicklung durch verkehrspolitische Maßnahmen und einen verlässlichen Finanzierungsrahmen entgegenzuwirken. Nur so kann das Vertrauen der Bürger in den ÖPNV weiter steigen.Wie hat sich die Nachfrage in Ihrem Landkreis seit Einführung des Tickets verändert – und können Sie diesem Anstieg überhaupt gerecht werden?Im straßengebundenen ÖPNV hat sich die Fahrgastzahl durch alle Maßnahmen fast verdoppelt. Es ist aber immer noch viel Luft im Bus. Mit Flexa sind wir zu Beginn des Jahres mit zwei Fahrzeugen gestartet. Heute sind acht Fahrzeuge voll ausgelastet.Auf der Schiene gab es von 2019 auf 2024 einen Zuwachs von circa 25 Prozent. Bei einzelnen Linien ging es um bis zu 90 Prozent und mehr nach oben. Im Ergebnis sind an bestimmten Tagen und zu Spitzenzeiten vor allem weitlaufende Regionalexpress-Linien immer wieder überfüllt. Solche RE-Linien verzeichneten im Vergleich der Jahre 2023 und 2024 allein einen Fahrgastanstieg um circa 30 Prozent – trotz der Preisanhebung beim Deutschlandticket.Wir reagieren auf die steigende Nachfrage und haben dort, wo es technologisch möglich ist, bereits zusätzliche Fahrzeugkapazitäten bestellt. Das bedeutet jährliche Mehrkosten im hohen sechsstelligen Bereich. Hinzu kommen zusätzliche Kosten für Reinigung und Instandhaltung.Viele Menschen nutzen das Deutschlandticket zudem für Fahrten im Fernverkehr. Reisende von München nach Berlin sind hier keine Seltenheit. Vor allem an den Wochenenden ist die Nachfrage deshalb stark gestiegen und kann gerade noch abgedeckt werden. Dafür war das Deutschlandticket allerdings nicht gedacht.Sehen Sie beim Deutschlandticket auch Vorteile? Viele Nutzer freuen sich ja darüber, dass sie sich nicht mehr durch den Tarifdschungel quälen müssen.Bei Tarifdschungel denke ich an den armen Mogli, der kein Ticket findet. Mit Check-in/Check-out-Systemen kann es aber auch einen attraktiven ÖPNV außerhalb der Flatrate geben.Finanziell am meisten lohnt sich das Deutschland-Ticket für ÖPNV-Nutzer, die schon vorher eine Monatskarte hatten. Studien gehen von weniger als 5 Prozent ÖPNV-Neukunden durch das Deutschlandticket aus.Wenn Sie das Ticket reformieren könnten – was würden Sie ändern? Oder sollte es ganz abgeschafft werden?Ich wäre für eine Reform, die sicherstellt, dass alle Bürger von einem solchen steuerfinanzierten Angebot profitieren. Der ländliche Raum sieht die jetzige Situation sehr kritisch. In Nordsachsen haben aktuell fast 20 Prozent der Einwohner keinen unmittelbaren Zugang zum ÖPNV-Netz. Wir brauchen eine Mobilitätsgarantie im Rahmen der Daseinsvorsorge. Der dadurch entstehende weiterer Aufwand bei den Aufgabenträgern muss sich wiederum in den Aufwendungen für das Deutschland-Ticket niederschlagen.Um die Dimensionen greifbar zu machen: Im Landkreis Nordsachsen beziehungsweise im Verbandsgebiet des Zweckverbands Nahverkehrsraum Leipziger Raum fehlt bereits heute ein zweistelliger Millionenbetrag jährlich zum Vollausbau des notwendigen ÖPNV-Angebotes, von der unzureichenden Infrastruktur und erforderlichen Investitionen ganz abgesehen. So ist es zum Beispiel nicht möglich, längere Züge verkehren zu lassen, da die Bahnsteige zu kurz sind. Zudem gibt es noch viele eingleisige Streckenabschnitte, die wie ein Flaschenhals wirken und die Kapazität im gesamten Netz einschränken. Auch die Prozesse im Infrastrukturausbau müssten beschleunigt werden. Wenn wir einen neuen Haltepunkt benötigen, beispielsweise um ein neues Gewerbegebiet anzubinden, veranschlagt die DB InfraGO AG hierfür einen Umsetzungszeitraum von acht bis zehn Jahren; vorausgesetzt die Finanzierung ist gesichert.Zweiter wichtiger Punkt ist die Reduzierung der Gültigkeit des Tickets auf den Nahverkehr – also auf Wege, die innerhalb eines Radius von 50 Kilometern oder einer Stunde Fahrzeit erledigt werden können.Wie könnte eine nachhaltige Finanzierung des ÖPNV in der Fläche konkret aussehen – auch jenseits des Deutschlandtickets?Nachhaltig wären eine Mobilitätsgarantie für einen bestimmten Zeitraum als Mindestangebot und eine Steuerfinanzierung dieses Angebotes gegenüber den Aufgabenträgern. Geht alles so weiter wie bisher, reichen die Mittel absehbar nicht einmal mehr zur Sicherung der Bestandsverkehre aus. Angesichts der politisch gewünschten Steigerung des Fahrgastaufkommens bei gleichzeitigem Rückgang der Nutzerfinanzierung müssen die Zuschüsse von Bund und Ländern erhöht werden, denn aus den kommunalen Kassen wird dies nicht bezahlbar sein.a.mohl@derneuekaemmerer.de

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