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Wir brauchen in Deutschland dringend die Doppik

Die Haushaltsrechnung des Bundes ist intransparent und lückenhaft. Die in Deutschland angewandte kameralistische Haushaltsführung und Rechnungslegung betrachtet quasi nur die jährlichen Zahlungseingänge und -ausgänge. Insbesondere der große Block künftiger Zahlungsverpflichtungen, etwa aus den Soziallasten und der Werteverzehr aus dem Verbrauch bundeseigenen Vermögens, wird ausgeblendet und die zahlreichen „Schattenhaushalte“ und „Sondervermögen“ dürfen sich verstecken. So kann der Bundesfinanzminister für das Jahr 2022 eine Nettokreditaufnahme von 115 Milliarden Euro ausweisen, obwohl es mit den Schattenhaushalten 475 Milliarden Euro sind. Ein konsolidierter Jahresabschluss des Bundes unter Einbeziehung der mehr als 820 Milliarden Euro Pensions- und Beihilfeversprechen und der rund 100 öffentlichen Unternehmen – Fehlanzeige. „Wie ein Kleinstkaufmann“, schreibt der Verband der Wirtschaftsprüfer IDW (Eulner 2019), will der Bund mit seinen inzwischen 337 Milliarden Euro Steuereinnahmen mit einer Einnahmen-Ausgaben-Rechnung auskommen.

Verzicht auf elementarste Standards

Haushaltsentscheidungen sind in diesem System nur eingeschränkt möglich. Dieser Verzicht auf die elementarsten Standards der doppelten Buchführung würde der Gesetzgeber aus gutem Grund keinem mittelständischen Unternehmen durchgehen lassen. Ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland ist mit dieser besseren „Zettelwirtschaft“ nicht mehr führbar. Finanzielle Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit spielen im gegenwärtigen Haushaltsrecht nur eine untergeordnete Rolle. Diese Versäumnisse – selbstkritisch muss man sagen: auch Versäumnisse der Union – müssen schnellstens beseitigt werden.

Ralph Brinkhaus MdB
Quelle: Dominik Butzner

Lehre aus der Staatsschuldenkrise

Der Rest der Europäischen Union, mit Ausnahme der Niederlande, ist da bereits weiter und forciert mit viel Nachdruck das sogenannte doppische Rechnungswesen. Ein Rechnungswesen, das eben nicht nur die laufenden Ein- und Auszahlungen betrachtet, sondern Anlagevermögen, Schulden und Soziallasten transparent ausweist: also eine klassische doppelte Buchführung.

Im europäischen Projekt EPSAS, den European Public Sector Accounting Standards, liegt eine Chance, denn dieser Rechnungslegungsstandard würde einen umfassenden Überblick über Gesamtvermögen, Gesamtschuldenstand inklusive Pensionsverpflichtungen und Leistungsversprechen der Sozialversicherungen sowie über den Werteverzehr der Infrastruktur und die Erneuerungsinvestitionen der Staaten bieten. Dabei geht es nicht nur um Transparenz, sondern auch um Vergleichbarkeit innerhalb der Europäischen Union. Als Lehre aus der Staatsschuldenkrise der Eurozone mit ihren ganz unterschiedlichen nationalen Rechnungslegungssystemen hatten sich die EU-Mitgliedstaaten 2013 auf den Weg gemacht, dies zu ändern. Die EU will eine gemeinsame, international kompatible, untereinander vergleichbare, umfassende Rechnungslegung für die Staatshaushalte erreichen. Und das ist absolut richtig, denn es geht dabei nicht nur um nationale Interessen, sondern auch um die Steuerung und den vergleichbaren Nachweis der Verwendung von EU-Mitteln. Man kann davon ausgehen, dass der Erhalt von EU-Mitteln spätestens Ende des Jahrzehnts davon abhängt, dass die Mittelverwendung in dem dann neuen EPSAS-System nachgewiesen wird. Doch Deutschland verharrt bei seinem alten System!

Dr. Inge Gräßle MdB
Quelle: Hostrup Fotografie – Thomas Zehnder

Fortschritte in EU-Mitgliedstaaten

Täglich wird in Europa an den Standards und ihrer Umsetzung gearbeitet – mit starken Fortschritten in Sachen Transparenz und Staatsmodernisierung. Bei den regelmäßig stattfindenden Treffen der EPSAS-Experten berichten die Fachleute aus den Finanzministerien der EU-Mitgliedstaaten über ihre jeweiligen nationalen Umsetzungsprozesse und wie die bisherigen nationalen doppischen Standards an EPSAS angepasst werden. Wie weit sich die EU-Partner ohne Deutschland weiterentwickelten, verdeutlicht die letzte Sitzung im Mai 2023. Da berichtet etwa Frankreich von automatisierter Rechnungslegung und einem „beispiellosen Mehrwert“ durch die neuen Standards. Schweden stellt seine Pläne für Haushaltsmanagement-Datenlabore mit öffentlich zugänglichen „Wissenszentren für öffentliche Rechnungslegung“ vor, Italien schildert die Anpassung der italienischen doppischen Standards an EPSAS.

Es zeigt sich, dass auch der Weg Teil des Ziels ist: Die Erfolge bei der Modernisierung ihrer eigenen Verwaltung haben in der EU auch Skeptiker überzeugt. In den Umsetzungsberichten wird von einer Verbesserung der Verwaltungsprozesse berichtet, die die Transparenz erhöhe und die Steuerung verbessere, die in der Vergangenheit eingegangenen Verpflichtungen umfassend sichtbar mache, Zuständigkeiten zwischen politischen Ebenen kläre und, ja, auch „verborgene Schätze“ hebe.

Deutschland außen vor

Die unmittelbare Folge der fortgesetzten deutschen Verweigerung ist, dass Deutschland bei diesen Diskussionen in Europa außen vor ist. Auf nationaler Ebene stehen dem Bund nur lückenhafte Managementinformationen über Haushaltsführung, Vermögensrechnung, Nachhaltigkeit und Zielerreichung zur Verfügung. In Berlin konzentrieren sich die Haushälter im Deutschen Bundestag akribisch auf Haushaltsansätze, Verpflichtungsermächtigungen, Mittelabflüsse und Haushaltsreste bei den Ministerien. Aber die ungenügenden Ergebnisse im Programmmanagement, schlechte Leistungen und Fehlsteuerungen in den staatlichen Programmen bleiben verborgen: Sie werden weder systematisch erfasst, geschweige denn dem Parlament berichtet. Was sich etwa in den Programmen tatsächlich tut oder nicht, bleibt in der Regel der gezielten Nachfrage einzelner Abgeordneter überlassen und den selektiven Berichten des Bundesrechnungshofs.

Bundestag wäre Gewinner

Es sollte also eigentlich im ureigenen parlamentarischen Interesse liegen, die Regierung durch eine transparentere Rechnungslegung besser zu kontrollieren. Deswegen stellt sich schon die Frage: Warum fremdelt der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend mit der Doppik, wäre er doch der erste Gewinner von mehr und besseren Informationen? Bisher beharrt der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags darauf, dass in Deutschland alles so bleiben solle, wie es ist. Die „bewährten deutschen Rechnungslegungsgrundsätze“ sollten in der EU „ausreichend Beachtung finden“ (Beschluss 2013). Da der Deutsche Bundestag für den Bundeshaushalt am kameralen System mit seiner Einnahmen-Ausgaben-Rechnung festhalten will, hat sich auch der Bundesrechnungshof 2015 ablehnend gegenüber den neuen Standards geäußert – weil das Nebeneinander zweier Systeme (für Haushalt und Rechnungslegung) Kosten verursache und den eigentlich beabsichtigten Mehrwert der Doppik vernichte. Wie der nationale Haushaltsgesetzgeber bessere Informationen erhält, damit die Steuerung der Mittel in Deutschland effizienter wird – das stand nie zur Debatte. Diese Debatte ist stattdessen geprägt von geschätzten Umstellungskosten von bis zu 2,5 Milliarden Euro (Eurostat) und dem Aufwand für die Verwaltung. Druck gibt es seit dem 24. April 2023 durch den Richtlinienentwurf der Kommission an den Rat (2023/0136 NLE) mit der verpflichtenden Einführung der Doppik bis 2030 in allen EU-Mitgliedstaaten und mit weiteren unterjährigen Berichten der Mitgliedstaaten über Schuldenstände und Defizite jeder einzelnen staatlichen Ebene sowie der Sozialversicherungen.

Gigantischer Aufholprozess

Das setzt weitgehend automatisierte Berichtswesen voraus. Deutschland hat jetzt nur ein paar Jahre Zeit, um einen gigantischen Aufholprozess zu starten und die deutsche Bundesverwaltung auf Augenhöhe mit den Anforderungen der EU und dem Leistungsstand der EU-Partner zu bringen. Unterhalb der Bundesebene arbeiten Bundesländer wie Hamburg und Hessen und in vielen Bundesländern auch die Kommunen schon lange mit eigenen doppischen Rechnungslegungsstandards; Standards, die sich allerdings nicht an den europäischen EPSAS, sondern am deutschen Handelsgesetzbuch orientieren. Eine europäische EPSAS-Harmonisierung dürfte die „wahrscheinlich letzte Chance“ (Budäus/Hilgers/Steger 2014, S. 72) darstellen, das heterogene, intransparente, aus 33 verschiedenen Rechnungslegungsrahmen bestehende Haushaltsrecht in Deutschland anzugleichen.

Was also tun? Ein „Weiter so“ verbietet sich. Der Deutsche Bundestag muss sich bei der Einführung der Doppik in die Lokomotive setzen – das heißt:

  • Der Deutsche Bundestag muss kurzfristig einen Grundsatzbeschluss zur Einführung der Doppik gegebenenfalls auf Basis der EPSAS im Bundeshaushalt verabschieden.
  • Der Deutsche Bundestag muss das Bundesfinanzministerium auffordern, dass Deutschland sich – soweit dies noch möglich ist – aktiv in den europäischen EPSAS-Prozess einbringt.
  • Über die Einführung der EPSAS hinaus muss der Deutsche Bundestag mittelfristig einen Eckpunktebeschluss zur grundlegenden, an qualitativen Zielen orientierten Modernisierung des Haushaltsrechts von der Haushaltsaufstellung bis zur Haushaltskontrolle verabschieden.
  • Die Bundesländer müssen sich dringend verständigen, wie sie vor dem Hintergrund der Einführung der EPSAS ihre zu großen Teilen kameralen Landeshaushalte stimmig anpassen und wie sie mit den bereits zu erheblichen Teilen doppischen Kommunalhaushalten umgehen.
  • Wir brauchen die Anwendung der europäischen Rechnungslegung mit einer Bilanz, die den Gesamthaushalt, alle Schattenhaushalte/Sondervermögen sowie die Unternehmen des Bundes, das ganze Vermögen und alle Schulden auf konsolidierter Basis betrachtet, den Ressourcenverbrauch einpreist, Produkthaushalte aufstellt und Aussagen zur Wirtschaftlichkeit macht. Dies geht weit über die Einführung von EPSAS hinaus. Es geht darum, dass ein moderner, leistungsfähiger Staat nicht mehr allein anhand von jährlichen Finanzströmen wie Steuereinnahmen, Ausgaben und Schulden, sondern vielmehr ergänzend anhand der Erreichung von „nicht monetären“ Zielen gesteuert werden muss. Dazu gehören nationale bzw. europäische wirtschaftliche und soziale Kenndaten wie auch die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen.

ralph.brinkhaus@bundestag.de

Info

Ralph Brinkhaus und Dr. Inge Gräßle sind Mitglieder des Deutschen Bundestags. Dieser Gastbeitrag ist zuerst in der aktuellen DNK-Printausgabe erschienen. Hier geht es zum Zeitungsabo und hier zur Newsletter-Anmeldung.