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„Hoch lebe die Bürokratie!“

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Kommunale Gesamtabschlüsse machen großen Sinn – so jedenfalls meinen viele Theoretiker mit berechtigtem Verweis darauf, dass immer mehr kommunale Aufgaben aus der Kernverwaltung ausgelagert werden. Doch ist das in der Praxis wirklich so? Wie lässt es sich erklären, dass zwar eine Reihe von Bundesländern in ihren Gemeinde- und Gemeindehaushaltsverordnungen verbindliche Regeln zur Aufstellung von kommunalen Gesamtabschlüssen festgelegt haben, jedoch die Einhaltung durch die Kommunen oftmals nur zögerlich oder sogar gar nicht erfolgt? Und wie ist es zu erklären, dass dieses Vorgehen durch die Aufsichtsbehörden, wenn überhaupt, nur lustlos sanktioniert wird? Die Antwort ist einfach: Weil sich in der kommunalen Praxis aufgrund der fehlenden Steuerungsrelevanz kaum jemand dafür interessiert.

Grundansatz des Gesamtabschlusses ist gut und richtig

Dabei ist der Grundansatz kommunaler Gesamtabschlüsse gut und richtig. Und so wurde beispielsweise in Nordrhein-Westfalen bereits vor über 15 Jahren im Zusammenhang mit der Umstellung der Kameralistik auf die Doppik der Gesamtabschluss von der Kommunalabteilung des Innenministeriums in einem Modellprojekt vorbereitet. Die Stadt Solingen, als Modellprojektkommune zunächst mit viel Verve gestartet, hatte sich dann aber sukzessive zurückgezogen. Der Rückzug erfolgte, weil im Projektverlauf klar wurde, dass kein schlankes Gesamtsteuerungsinstrument, sondern viel Bürokratie entstehen würde. Bürokratie, die große und erst recht kleinere Städte und Gemeinden mit erheblichem Mehraufwand ohne wirklichen Zuwachs an Nutzen konfrontieren würde. Entstanden sind letztlich die heutigen Regelungen zum Gesamtabschluss in der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung und Kommunalhaushaltsverordnung.

Widerstände aus der Praxis

Diese Regelungen sind aufgrund von Widerständen aus der kommunalen Praxis in den vergangenen Jahren bereits vereinfacht und gestrafft worden. So wurden nachträglich größenabhängige Befreiungen und der Verzicht auf die Einbeziehung von verselbständigten Aufgabenbereichen mit untergeordneter Bedeutung geregelt. Beides stellt eine deutliche Erleichterung dar, doch noch immer fremdeln viele der betroffenen Städte. So auch Solingen. Zwar erstellt die Stadt seit Jahren ziemlich fristgerecht ihre Gesamtabschlüsse, doch sie verschwinden weitgehend ungelesen in den Clouds (früher den Aktenschränken) von Ratspolitik und Verwaltungsvorstand.

Dies liegt zum einen an der fehlenden Aktualität: Selbst wenn der Gesamtabschluss vorbildlich bis zum Stichtag 30. September des Folgejahres erstellt wurde, liegt er den Räten im Entwurf nicht vor November vor – also fast ein Jahr nach Berichtsjahresende. Für die Prüfung gehen weitere Monate ins Land, so dass mit einer geprüften und testierten Fassung allerfrühestens eineinhalb Jahre nach Ablauf des Berichtsjahres gerechnet werden kann. Es gibt kaum eine Stadt, die das schafft. Vieles von dem hat sich bis dahin zeitlich längst überholt und taugt damit nicht für eine zeitnahe Gesamtsteuerung.

Zum anderen liegt es an der gesetzlich vorgegebenen Gestaltung des Gesamtabschlusses, die, abgesehen von der Gesamtbilanz und der Gesamt-Gewinn-und-Verlust-Rechnung (GuV), wenig adressatengerecht ist. Bereits jeder BWL-Studierende lernt in Vorlesungen zum Controlling, dass Reportings vor allem eines sein müssen: adressatenorientiert. Heißt im Klartext: Verwaltungsvorstände und Ratsmitglieder benötigen keine zig Seiten, durch die sie sich „durchpflügen“ müssen, sondern prägnant und graphisch aufbereitet die wesentlichen steuerungsrelevanten Informationen. Die Stadt Solingen wird diesem Anspruch gerecht, indem sie seit Jahren ihren Verwaltungsvorstand in Form spezieller Monatsreportings und den Finanzausschuss in Form von Quartalsberichten zeitnah über die unterjährige Entwicklung des Haushalts informiert.

Pathologischer Charakter

Gleiches gilt für ihre Mehrheitsbeteiligungen: Hier werden Verwaltungsvorstand und Beteiligungsausschuss durch die kommunale Beteiligungsholding quartalsweise und zeitnah in einem speziellen Reporting über die wirtschaftliche Entwicklung jeder einzelnen Beteiligung und die Gesamtentwicklung in Kenntnis gesetzt. Während diese Berichte sehr regelmäßig die Basis von unterjährigen Maßnahmen zur Nachsteuerung bei der Nichteinhaltung von Zielvorgaben darstellen, haben die Gesamtabschlüsse bestenfalls pathologischen Charakter. Dass für Letztere viel Arbeitszeit der betriebswirtschaftlichen Experten in Beteiligungsholding und Kämmerei gebunden wird, macht es umso ärgerlicher.

Um zumindest eine gewisse zeitliche Erleichterung zu erreichen, hat sich die Stadt Solingen aufgrund ihrer Pflicht zur Erstellung des Gesamtabschlusses entschieden, keine Beteiligungsberichte mehr zu produzieren. Dabei erfreuten sich diese eines deutlich größeren politischen und öffentlichen Interesses als heute die Gesamtabschlüsse. Was ist nun die Quintessenz? Gesamtabschlüsse in ihrer jetzigen Form sind wirklichkeitsfremd und nutzlos – außer möglicherweise für Historiker. Länderparlamente, befreit uns also von diesem bürokratischen Ballast! Ein gutes Controlling mit zeitnahen und adressatengerechten Berichten ist das Mittel der Wahl für die Steuerung und Kontrolle der Kommunen und ihrer Beteiligungen.

Wertet den Gesamtabschluss auf!

Wenn es euch aber wirklich ernst ist mit einem (konsolidierten) Gesamtabschluss, dann stellt ihn vom Kopf auf die Füße. Stellt sicher, dass er auf wenige wesentliche Informationen konzentriert wird, dass er zügig erstellt werden kann, und vor allem: Wertet ihn auf! Macht ihn zur Grundlage für Haushaltsgenehmigungen und geht noch einen Schritt weiter: Macht ihn auch zur wesentlichen Grundlage im System des kommunalen Finanzausgleichs. Der reine Blick auf die Haushalte der Kernverwaltung greift – zumindest für Großstädte – bekanntermaßen regelmäßig zu kurz.

ralf.weeke@solingen.de

Autor

Ralf Weeke ist Beigeordneter und Kaufmännischer Betriebsleiter der Technischen Betriebe Solingen. Zuvor war er 14 Jahre in Solingen Stadtkämmerer und Geschäftsführer der Beteiligungsholding.

Info

Dieser Beitrag ist zuerst in der aktuellen Ausgabe 1/2023 von Der Neue Kämmerer erschienen. Hier geht es zum Zeitungsabo und hier zur Newsletter-Anmeldung.

 

Vanessa Wilke

Vanessa Wilke ist gemeinsam mit Sarah Döbeling Chefredakteurin der Zeitung „Der Neue Kämmerer“. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster arbeitete Vanessa Wilke als freie Journalistin beim Handelsblatt, bis sie 2003 ihr Volontariat bei FINANCE begann. Dort entwickelte sie im Jahr 2004 die Zeitung „Der Neue Kämmerer“ sowie den „Deutschen Kämmerertag“ und leitete anschließend die Redaktion. 2017 begann sie mit der Entwicklung von „OBM – Zeitung für Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister“. 2020 folgte die Weiterentwicklung dieses Themenfelds in der Plattform #stadtvonmorgen, die seitdem ebenfalls zu ihrem Verantwortungsbereich zählt.