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„Man muss Tatsachen ins Auge blicken wollen“

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Herr Hilgers, vor ziemlich genau 20 Jahren hat die Innenministerkonferenz Empfehlungen zur Einführung der Doppik in den deutschen Kommunen formuliert. Primäres Ziel war, Transparenz zu schaffen und eine zielorientierte Haushaltssteuerung zu ermöglichen. Nun wurden die in der Doppik verankerten Regeln zunehmend aufgeweicht. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation ein?

Die Situation der Gemeinden in Deutschland ist generell problematisch. Wir haben einen enormen Wildwuchs verschiedener Bewertungsvorschriften, einige Länder und auch der Bund halten immer noch an der Kameralistik fest, und auch bei EPSAS ist quasi nichts passiert. Man verliert die Lust auf und auch das Vertrauen in die Doppik.

Wie konnte dieser Wildwuchs entstehen?

Ich denke, der wesentliche Grund liegt darin, dass die Kommunen, entgegen der ursprünglichen Idee, die Daten aus der Doppik in der Praxis nicht zu Steuerungszwecken verwendet haben und auch in der Breite dazu nicht gedrängt wurden. Und nun, wo möglicherweise die Aussagen nicht passen, wird begonnen, Vorschriften Zug um Zug zu verwässern. Erst fing es mit einer gewissen Großzügigkeit in den Umstellungszeiträumen an, dann gab man die Idee der Konzernschau auf, und nun geht es eben um Fragen von Ansatz, Ausweis und Bewertung von Schuld und Vermögen.

Doppik darf nicht missbraucht werden

Aber vor dem Hintergrund der jüngsten Krisen und des gleichzeitigen Anspruchs an Nachhaltigkeit müsste eine zielorientierte Haushaltssteuerung doch an Bedeutung gewonnen haben?

Das sollte man meinen, tatsächlich hat diese Praxis unter Corona aber enorm gelitten. Es ist schon absurd, wenn Regelungen geändert und Dinge verschleiert werden, um beispielsweise die Neuverschuldung nicht transparent werden zu lassen – man denke nur an das Sondervermögen für die Bundeswehr beim Bund. Wenn nun auch die Doppik derart missbraucht wird, bietet sie keinen echten Mehrwert mehr und man kann gleich zurück zur Kameralistik gehen. Dieser Punkt wird ja beispielsweise an der Diskussion um den Konzern- beziehungsweise Gesamtabschluss der Gemeinden mehr als deutlich, von dem wir immer noch meilenweit entfernt sind, wenn man sich einmal die gesamtdeutsche Lage vor Augen hält. Aber auch die Reformprojekte der einzelnen Bundesländer (also nicht der Gemeinden) hin zu einem flächendeckenden, konzernorientierten Rechnungswesen, das auch die Risiken der „Töchter“ umfasst, sind nicht mehr als ein frommer Wunsch – vom Eifer der Hamburger Reformpromotoren einmal abgesehen.

Der kommunale Gesamtabschluss hat sich also nicht in der Breite durchsetzen können?

Ein Konzernabschluss war und ist von zentraler Bedeutung gewesen, um einen großen konsolidierten Blick auf die Gemeinde zu werfen. Aber der Reformeifer der 1990er und 2000er Jahre hat irgendwann aufgehört. Heute ist es nur ein Bericht, der, wenn man das ganze Land betrachtet, nur fragmentarisch und wenig aktuell vorliegt und der in der Wahrnehmung vieler Entscheidungsträger primär Kosten verursacht und weiter nicht genutzt wird. Wenn dieses Instrument aber so bedeutungslos ist, warum zwingen wir Unternehmen dann derart, über ihre tatsächliche Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu berichten? Auf der Gemeindeebene will dies so lange niemand wissen, bis die erste Sparkasse oder das erste Stadtwerk in Schieflage gerät und die „Mutter“ belastet. Ich warne daher dringend davor, derartige Verflechtungen komplett auszublenden und zu hoffen, dass alles irgendwie schon gut laufen wird.

Vergleichbarkeit schaffen und Steuerungsimpulse setzen

Wenn Sie sagen, dass sich diese Entwicklungen in der Pandemie verstärkt haben, geht es Ihnen dann vor allem um die Bilanzierungshilfen des Landes NRW?

Unter anderem. Was NRW mit der Bilanzierungshilfe gemacht hat, ist schon obskur und die Gefahr, dass dies jetzt in jeder Krise oder wirtschaftlichen Notsituation anderen Gebietskörperschaften und Gesetzgebern als Inspiration dienen kann, liegt auf der Hand. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass man aufgrund der Coronazeit die Bewertungs- bzw. Bilanzierungsregeln als solche im HGB oder den IFRS pandemiebezogen wesentlich angepasst hätte.
Alle Bundesländer geben sich ja von jeher unterschiedliche Bilanzierungsregeln und diese Heterogenität steigt durch solche Eingriffe, wo man eigentlich hoffen sollte, dass sich die Gebietskörperschaften in Europa bezüglich ihrer Aussagen zur Rechenschaft und Dokumentation eher harmonisieren müssten. Dabei lag der ursprüngliche, vor allem durch die Wissenschaft kommunizierte Mehrwert der Doppik ja auch darin, Vergleichbarkeit zu schaffen und Steuerungsimpulse zu motivieren. Eine bundeseinheitliche Perspektive sehe ich allerdings aktuell leider nicht, trotz eines wirtschaftsnahen Bundesfinanzministers. Eher das Gegenteil ist der Fall, sieht man sich beispielsweise an, wo wir mit den EPSAS stehen – nämlich immer noch ganz am Anfang.

Die Hürden bei der Einführung der Doppik wurden viel diskutiert. Sehen Sie nach 20 Jahren Doppik auf der kommunalen Ebene auch strukturelle Probleme? Warum hat sie nicht die Stärke entwickelt, die sie im Bereich der Unternehmen hat?

Zwischen der kaufmännischen Buchführung nach dem HGB und der kommunalen Doppik gibt es einen wesentlichen Unterschied: Das kaufmännische Rechnungswesen hat in Unternehmen eine zentrale Bedeutung, weil es nicht nur betriebliche Rechenschaftsregeln sind, sondern weil ihre Aussagen und Werte auch existentiell für die unternehmerische Fortführung sind. Überschuldung, Gewinnermittlung, Verlustvermeidung, Zahlungsfähigkeit sind essentielle Kenngrößen, gegen bzw. für die es zu wirtschaften gilt. In jedem Jahresabschluss steckt somit nicht nur die Dokumentation der unternehmerischen Performance, sondern er ist eben auch Beleg dafür, nicht überschuldet bzw. insolvent zu sein. So macht der Jahresabschluss ordnungspolitisch das Unternehmen damit erst zu einem legitimen Marktteilnehmer. Eine analoge Räson, die finanzwirtschaftlichen Zahlen ähnlich streng an institutionelle Regeln zu knüpfen, hat es im öffentlichen Sektor aber nie gegeben. Kommunale Schuldenbremsen, Gebietsreformen, Sparkommissare, Ämterbedingungen, alles ist gedacht und beschrieben worden, aber eine echte Ultima Ratio (abgesehen von den Einreden der Kommunalaufsicht) gibt es bis heute nicht.
Der doppische Jahresabschluss ist im Grunde nur einer von vielen Berichten – zu Dokumentationszwecken ja, aber viel zu selten ein echtes Planungselement, mit wenig Steuerungsrelevanz und allzu oft ein zeremonielles, hochgeladenes PDF, verfügbar irgendwo im Intranet.

Finanzielle Zukunft der Gemeinden steht auf dem Spiel

Welche Gefahr ist damit verbunden?

Ich vermute, dass sich auf der Makroebene die Eigenkapitalquote der deutschen Gemeinden in Summe seit zehn Jahren kontinuierlich verschlechtert und, wenn dies noch mal zehn Jahre so weitergeht, die finanzielle Zukunft der Gemeinden in der Fläche wirklich auf dem Spiel steht. Nun sind zwar Themen wie „Instandhaltungsstau“ und „Altschulden“-Problematik auf der Agenda, aber sie werden eben viel zu wenig mit dem Konzept der Doppik in Verbindung gebracht. Was wollen wir mit Gemeinden machen, die 20 Jahre kontinuierlich Eigenkapital verlieren und dies auch negativ anwachsen lassen?
Wenn man nun in Betracht zieht, welche gewaltigen Risiken auf die Gemeinden zukommen, man denke nur an die inflationsbedingten Verwerfungen, die Explosion der Personalkosten, aber auch der Fremdkapitalkosten, dann wird manchem Kämmerer wahrscheinlich heute schon mulmig. In solchen Zeiten dann aber die Regeln des Rechnungswesens zu verändern, grenzt schon an höhnische Täuschung und hat mit Transparenz und Wahrhaftigkeit nicht viel zu tun. Dass jetzt in NRW die Coronahilfen als „kriegsbedingte Bilanzierungshilfe“ prolongiert werden, bestätigt meinen Eindruck in diese Richtung.

Plädoyer für standardbasierte, einheitliche Regeln

Würden Sie so weit gehen, dass das ursprüngliche Konzept der kommunalen Doppik gescheitert ist?

Wenn man politisch so agiert wie das Bundesland NRW, das für seine Gemeinden neue Regeln schafft bzw. verlängert, dann definitiv ja. Umso mehr würde ich gern ein Plädoyer für bundesweite Standards, um nicht zu sagen europäische Standards und eine Anbindung der Doppik an die Steuerung bzw. Planung halten. Das war auch ursprünglich die Idee, so dass das Konzept an und für sich auch für Städte und Gemeinden meines Erachtens nach sinnvoll ist und einen Mehrwert bezüglich Information und Steuerung geben kann.

Aber noch mal: Grundsätzlich stellt sich die Frage, wer wie eingreift, wenn die Finanzen aus dem Ruder laufen und damit die Leistungsfähigkeit der Gemeinde in besonderer Gefahr ist. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob die fiskalische Situation kameral oder doppisch gemessen wird. Was aber nicht geht, ist, je nach Umweltbedingungen den Messansatz so anzupassen und den Informationsgehalt von Rechenwerken so zu verwässern, dass die Aussagen angenehmer erscheinen. Man muss schon Tatsachen ins Auge blicken wollen.

Auf der anderen Seite bin ich recht zuversichtlich, dass der Kapitalmarkt und das Bankensystem eines Tages ihre Ansprüche an Rechenschaft auch von Gemeinden neu definieren werden, eben wenn die Neukreditvergabe beziehungsweise die extensive Geldpolitik rigider werden wird. Erste Anzeichen dazu sehen wir ja heute schon, und in Griechenland waren es am Ende die Ratingagenturen (in Ermangelung von präsentierten Staatsbilanzen), die die Zukunft eines ganzen Landes mitentschieden haben. Dies war ja auch unter anderem die Geburtsstunde der EPSAS-Idee, so dass ich es nach wie vor als sehr sinnvoll erachte, dass ein öffentliches Gemeinwesen sich selbst die Regeln gibt, mit denen es seine finanzielle Verfasstheit misst und präsentiert. Aber dazu braucht es eben standardbasierte, einheitliche Regeln, die nicht willkürlich und für die Gemeinden wohlwollend, möglicherweise gar abhängig von der politischen Farbe in einem Innenministerium, jederzeit kreativ angepasst werden können.

v.wilke@derneuekaemmerer.de

Info

Das Interview mit Dennis Hilgers ist zuerst in der aktuellen Ausgabe 1/2023 von Der Neue Kämmerer erschienen. Hier geht es zum Zeitungsabo und hier zur Newsletter-Anmeldung.
Vanessa Wilke

Vanessa Wilke ist gemeinsam mit Sarah Döbeling Chefredakteurin der Zeitung „Der Neue Kämmerer“. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster arbeitete Vanessa Wilke als freie Journalistin beim Handelsblatt, bis sie 2003 ihr Volontariat bei FINANCE begann. Dort entwickelte sie im Jahr 2004 die Zeitung „Der Neue Kämmerer“ sowie den „Deutschen Kämmerertag“ und leitete anschließend die Redaktion. 2017 begann sie mit der Entwicklung von „OBM – Zeitung für Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeister“. 2020 folgte die Weiterentwicklung dieses Themenfelds in der Plattform #stadtvonmorgen, die seitdem ebenfalls zu ihrem Verantwortungsbereich zählt.