Die Stadt Gießen hat sich als Konsequenz aus der Greensill-Pleite neue Anlagerichtlinien gegeben. Diese verbieten Anlagen bei Privat- und Geschäftsbanken nun kategorisch. Warum haben Sie sich für diese rigorose Vorgabe entschieden?
Man muss diese Entscheidung im Zusammenhang mit der Greensill-Insolvenz sehen. Der Stadt droht ein Verlust von 10 Millionen Euro. Die Insolvenz war ein einschneidendes Ereignis, das hohe Wellen geschlagen hat. Von der Kommunalaufsicht bis zu einem Akteneinsichtsausschuss der Stadtverordnetenversammlung haben sich viele Stellen eingeschaltet, es gab sehr viel Presseberichterstattung. Das war schon außergewöhnlich. Deshalb ziehen wir auch außergewöhnliche Konsequenzen. Sie sagen „rigoros“ – so rigoros war auch der Ausgangspunkt. Wir haben uns die neuen Anlagerichtlinien deshalb als vertrauensbildende Maßnahme gegeben, mit der wir für maximale Transparenz sorgen und einem stark gestiegenen Sicherheitsinteresse der Stadt Rechnung tragen wollen.
Wäre es nicht stattdessen denkbar gewesen, Anlagen bei Privatbanken an deren Rating zu knüpfen? Oder zumindest die großen Akteure von der Vorgabe auszuklammern?
Die Geeignetheit der Ratings ist ein Thema, über das man sehr lange diskutieren kann. Es steht mir nicht zu, das Ratingsystem in Deutschland generell zu hinterfragen. Aber: Auch Greensill hatte immer noch ein gutes Rating, trotz der Herabstufung im September 2020, und insbesondere ein Rating, welches nach unseren damaligen Anlagerichtlinien als ausreichend einzustufen war. Wir haben in der interfraktionellen Arbeitsgruppe, die die Anlagerichtlinien überarbeitet hat, darüber diskutiert, ob wir uns weiterhin am Rating als Risikoparameter orientieren wollen. Am Ende haben wir uns aber dagegen entschieden. Nach der Greensill-Insolvenz kann man schon die Frage stellen, ob Ratings dazu geeignet sind, die Sicherheit öffentlicher Gelder beurteilen zu können.
Gilt die Entscheidung für alle Laufzeiten?
Sie gilt für alle Geldanlagen, die über Tagesgelder hinausgehen.
Welche Vorgaben machen die Anlagerichtlinien im Übrigen? Inwieweit gehen sie – abgesehen von der Frage nach Anlagen bei Privatbanken – über die alten Richtlinien hinaus?
Es gibt noch zwei entscheidende Änderungen: einmal eine sehr viel stärkere Verpflichtung, externe Beratung hinzuzuziehen – sowohl im Vorfeld einer Anlageentscheidung als auch, um später sicherzustellen, dass alle Dokumentationspflichten eingehalten werden. Diese Änderung ist auch eine Reaktion auf die Vorgaben der Aufsichtsbehörden. Der zweite Strang betrifft das Thema Nachhaltigkeit und ist ebenfalls ein Diskussionsergebnis der Arbeitsgruppe: Die Stadt soll nun immer prüfen, ob eine nachhaltige Anlage möglich ist.
„Ohne Beratung dürfen wir jetzt schlicht keine Anlagen mehr tätigen“
Im Moment läuft die Ausschreibung für ein zweijähriges Beratermandat mit einem Wert von 320.000 Euro. Geht es da nicht eher um Symbolpolitik?
Das ist keine Symbolpolitik, weil wir ohne Beratung jetzt schlicht keine Anlagen mehr tätigen dürfen. Wir könnten das auch nicht intern lösen, da wir zum Beispiel weder einen eigenen Treasury-Manager mit unserem begrenzten Umfang an Anlagen auslasten könnten noch bei dem aktuellen Fachkräftemangel eine realistische Chance hätten, so jemanden innerhalb der vom TVöD eröffneten Vergütungsstrukturen zu finden.
Wie haben Ihre Bankenpartner reagiert? Mussten Sie Gelder aktiv abziehen oder hatte die Stadt Gießen zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon keine Anlagen bei Privatbanken mehr?
Wir stehen natürlich mit allen in Kontakt. Bislang haben wir viel Verständnis für unsere Vorgehensweise erhalten. Durch die angepassten Richtlinien hat sich aber auch nichts Neues ergeben. Wir hatten zwar zum Zeitpunkt der Insolvenz noch Anlagen bei anderen Privatbanken. Die mussten wir aber damals schon wegen einer internen Vorgabe kündigen. Wir haben also alle Einlagen in vollem Umfang zurückgeholt und durften seitdem – bis heute – keine neuen Anlagen mehr tätigen. Übrigens gibt es ja auch andere Bereiche, in denen wir weiterhin mit Privat- und Geschäftsbanken arbeiten, zum Beispiel bei Krediten oder Bargeldbearbeitung.
Wie geht es jetzt weiter?
Wir verfügen im Moment über freie Liquidität, scheitern aber bezüglich der Anlagen daran, dass wir noch keine Beratung haben. Das Vergabeverfahren läuft gerade. Ich rechne damit, dass wir es im dritten Quartal abschließen und dann noch in diesem Jahr wieder in kleineren Tranchen anlegen können.
s.doebeling@derneuekaemmerer.de
Info
Dr. Sarah Döbeling ist gemeinsam mit Vanessa Wilke Chefredakteurin der Zeitung „Der Neue Kämmerer“. Sarah Döbeling hat Rechtswissenschaften in Kiel studiert und zu einem konzernrechtlichen Thema promoviert. Im Anschluss an ihr Volontariat bei der F.A.Z. BUSINESS MEDIA GmbH war sie bis 2015 Redakteurin des Magazins „FINANCE“ und verantwortete zudem redaktionell die Bereiche Recht und Compliance innerhalb von F.A.Z. BUSINESS MEDIA. Nach weiteren Stationen beim Deutschen Fachverlag und in einer insolvenzrechtlich ausgerichteten Kanzlei kehrte Sarah Döbeling im September 2017 in die F.A.Z.-Verlagsgruppe zurück und leitet seitdem die Redaktion der Zeitung „Der Neue Kämmerer“.

