Nun dauert das Interview doch länger als geplant. Die Gedanken schweifen zum Parkticket. Mist, ein Strafzettel droht. Wer kennt es nicht: Im Portemonnaie war wenig Kleingeld, alles ist in der Parkuhr gelandet – sogar die Fünf-Cent-Münzen –, trotzdem hat es nicht ganz gereicht. „In Bad Nauheim können Sie natürlich auch digital Ihren Parkschein bezahlen und die Parkuhr einfach auf dem Smartphone weiterdrehen, wenn Sie doch mehr Zeit brauchen“, sagt da der Fachbereichsleiter Zentrale Steuerung und Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Bad Nauheim, Matthias Wieliki. Er ist unter anderem für die Digitalisierung der Stadt verantwortlich und fungiert als Interimsgeschäftsführer des Stadtmarketings. Der digitale Parkschein ist für ihn fast selbstverständlich. In den Großstädten, in denen er früher gewohnt habe, könnten Autofahrer Tickets schon lange online bezahlen, sagt Wieliki. Bad Nauheim hat die Möglichkeit Mitte 2019 eingeführt.
Offenbar ist die Digitalisierung in der Kurstadt – vor allem im Vergleich zu anderen Klein- und Mittelstädten – bereits besonders weit vorangeschritten. Bad Nauheim belegt in einer aktuellen Digitalisierungsstudie den fünften Platz unter über 400 Kommunen und gilt damit als „Hidden Champion“, zu Deutsch als heimlicher Gewinner. Doch was macht die 32.000-Einwohner-Stadt so digital, dass sie mit Großstädten wie München, Hamburg und Köln mithalten kann? Als Voraussetzung für ihr Ranking nennen die Studienautoren eine öffentlich auffindbare Digitalisierungsstrategie und einen hohen Digitalisierungsgrad. Aktiv bewerben können Städte sich nicht. „Wir haben aus einer Zeitung über das Ranking erfahren und waren ganz überrascht“, sagt Wieliki und lacht, „nichtsdestotrotz unternehmen wir eine Menge, um digitale Möglichkeiten zu nutzen.“ Die gute Bewertung erklärt er sich mit dem „holistischen Digitalisierungsansatz“ der Stadt.
Bad Nauheims digitale Agenda
2018 hat Bad Nauheim eine digitale Agenda verabschiedet. „Konzernweit“, erläutert Wieliki, „wir haben von Beginn an gesagt, dass die Digitalisierung nicht nur ein Verwaltungsthema ist, sondern das kommunale Handeln in Gänze betrifft.“ Deshalb schließt die Agenda auch die städtischen Tochtergesellschaften ein. Eine Konzernrunde aus Dezernenten, Fachbereichsleitern und Geschäftsführern legt vier Mal im Jahr das kurzfristige Digitalisierungsvorgehen fest.
Um das Gesagte zu veranschaulichen, steht Wieliki zwischendurch auf und projiziert seinen Bildschirm auf einen großen Monitor am anderen Ende des Raumes. Die Stadt hat zweieinhalb Stellen eigens für die Digitalisierung geschaffen. Für die IT, die für die technische Umsetzung zuständig ist, gibt es weitere zweieinhalb Stellen. „Die Digitalisierungsvorschläge sollen allerdings nicht nur aus der Digitalabteilung kommen, sondern aus allen Fachbereichen“, sagt Wieliki. Deshalb hat Bad Nauheim eine Kostenstellenstruktur eingeführt. „Die Kollegen können Digitalisierungsprojekte in ihren Fachbereichen durchführen, sie in den Produkten verbuchen und die Kosten der zentralen Kostenstelle ‚Digitalisierung‘ zuordnen“, präzisiert der Digitalisierungsbeauftragte. Den Glasfaserausbau ausgenommen, hat Bad Nauheim im Rahmen der Digitalagenda bisher rund 800.000 Euro ausgegeben. Die Schwerpunkte liegen aktuell auf vier Themenfeldern: Infrastruktur, Verwaltung, Mobilität, Wirtschaft.
Sensorik in der Innenstadt
Den Punkt Infrastruktur decken vor allem Bad Nauheims Stadtwerke ab. Im gesamten Stadtgebiet wird ein Glasfasernetz ausgebaut. Öffentliches WLAN ist an mehreren Orten bereits eingerichtet. „In der Verwaltung haben wir natürlich eine Vorbildfunktion: Wir können nicht digital predigen und selbst analog arbeiten“, sagt Wieliki ernst. Beim Thema Onlinezugangsgesetz gebe es, wie in vielen anderen Kommunen auch, noch einiges zu tun. Vor allem in puncto Mobilität hat die Kurstadt indes große Pläne. Für den Verbau von Sensoren im Stadtgebiet nimmt die Stadt am Förderprogramm „Starke Heimat Hessen II“ teil. Das Gesamtvolumen liegt bei 900.000 Euro, die Förderquote bei 90 Prozent.
„Wir wollen zum Beispiel Sensoren an den Einfahrtsstraßen der Stadt installieren, um die Verkehrsströme zu messen und zu leiten“, sagt Wieliki. Er deutet aus dem Fenster; die Stadtverwaltung befindet sich an einer der Hauptverkehrsstraßen. Davon verspricht sich Bad Nauheim, den Parksuchverkehr zu minimieren. Zudem sollen künftig Sensoren die Luftqualität messen. Auch zu mehr Sicherheit könnte die Digitalisierung laut Wieliki beitragen. „Indem wir Rettungswege von Schulen oder Kliniken mit Sensoren ausstatten, können wir zeitnah dafür sorgen, dass sie von dauerhaft illegal abgestellten Fahrzeugen befreit werden.“ Künftig sollen andere Sensoren sogar Lärmquellen erkennen und einordnen, damit Sicherheitskräfte gezielt zu Brennpunkten fahren können, berichtet er.
Virtuelles Marketing
Während die Sensoren bislang noch Zukunftsmusik sind, hat Bad Nauheim offenbar das Mobilitätsziel „Smart Parking“ schon umgesetzt. Also – dem Hinweis von Wieliki folgend – schnell zum Auto, um die App als Parkuhr zu nutzen. Auf dem Automaten befindet sich eine Anleitung zum Download. Die App zu finden und herunterzuladen dauert allerdings einige Minuten. Zum Glück hat der Kontrolleur, der genau in diesem Moment die parkenden Autos inspiziert, offenbar Verständnis für die noch nicht ganz reibungslos laufenden Prozesse der Digitalisierung. „Ist das Ihr Auto?“, fragt er und sagt anschließend: „Na gut.“
Neben den Parkplätzen der Parkstraße liegt der Kurpark Bad Nauheims. Bäume, Bänke und ein See: An dem Park ist auf den ersten Blick nichts digital. Das Stadtmarketing hat ihn allerdings mit Hilfe von Drohnenbildern digitalisiert. In einem gemeinsamen Projekt mit der Nachbarstadt Friedberg hat Bad Nauheim ein Drohnenunternehmen beauftragt, 360-Grad-Bilder von der Stadt zu machen. Zu finden sind diese unter dem Stichwort „Bad Nauheim virtuell“ im Internet. Potentielle Gäste können sich so die Stadt angucken. Zukünftig soll das Portal auf den Schwerpunkt Wirtschaft der Digitalagenda einzahlen. Die Plattform „Bad Nauheim Liebe“, auf der die Bürger seit der Coronakrise online in den lokalen Läden shoppen können, soll etwa in die virtuelle Stadtbesichtigung integriert werden.
Digitales Hotel
Auch an den Bad Nauheimer Hotels scheint der Digitalisierungsgeist der Stadt nicht vorbeigegangen zu sein. Über den virtuellen Rundgang können Besucher Zimmer besichtigen und sich zum Buchen direkt auf die jeweiligen Webseiten weiterleiten lassen. Der Gang in das Boutique Hotel K7 ist deshalb wie ein Déjà-vu. „Um ehrlich zu sein, hatten wir die 360-Grad-Fotos schon aufnehmen lassen, bevor die Stadt auf uns zukam“, sagt Geschäftsführer Ivo Seher, während er im Frühstücksraum einen Kaffee serviert. Bevor sie ins Stadtmarketingportal eingebunden wurden, waren die Bilder bereits bei einer Suchmaschine online zu finden.
„Unser Ziel ist, die Fragen der Besucher möglichst schon im Vorfeld zu beantworten“, erklärt Seher. Für ältere Besucher sei es etwa wichtig, zu sehen, dass es in dem Hotel viele Treppen gebe. An die Stadt musste das Hotel für das Marketing nichts bezahlen, dem Subunternehmen des Suchmaschinenbetreibers hat es 600 Euro für die Aufnahmen bezahlt. „Mit der Digitalisierung haben wir eine Chance, den Mittelstand zu retten – dazu können Städte beitragen“, sagt Seher und demonstriert den hoteleigenen Saugroboter. Die Hotelbesichtigung endet in einem Zimmer mit digitalem Bluetooth-Spiegel und einem Tablet, das die Beleuchtung regelt. Da inzwischen selbst in der App die Höchstparkdauer abläuft, geht es ohne Umschweife zurück zum Auto.
Smarte Mülleimer
Am anderen Ende der Stadt ist der Kur- und Servicebetrieb, der unter anderem die Abfallentsorgung im Stadtgebiet steuert. Auf einem Tisch liegt ein Sensor, ein Testexemplar. Er ist klein, schwarz und unscheinbar. „Die Sensoren werden wir innen an den Abfallbehältern anbringen, die weit von der Stadtmitte entfernt sind“, erzählt Johannes Herold, Fachdienstleiter Stadtbildpflege. Zunächst sollen zehn Stück messen, wann die Behälter voll sind. „Einige Mülleimer am Waldrand sind 15 Fahrtminuten entfernt – es ist ärgerlich und verschwendet Ressourcen, wenn die Kollegen hinfahren und der Behälter leer ist“, sagt Herold. Ein Kollege, der neben ihm sitzt, stimmt zu. Mit Hilfe einer intelligenten Tourenplanung könnten die Routen der Papierkorbleerung geplant werden. Hierfür muss die Stadt zusätzlich eine Lizenz bei einer Softwarefirma erwerben. „Die Idee kam bei uns aus dem Fachbereich“, sagt Herold. Die Maßnahme wird im Rahmen der Digitalisierung des städtischen Bauhofs im Haushalt eingeplant.
Damit ist die Spurensuche in Sachen Digitalisierung in Bad Nauheim abgeschlossen. Die öffentlich sichtbare digitale Agenda und die vielen unterschiedlichen Projekte, die die Stadt bereits angestoßen hat, tragen offenbar zu der guten Platzierung im Smart-City-Ranking bei. Dass Bad Nauheim bald smarte Mülleimer haben wird, wissen wohl die wenigsten – Projekte wie dieses passen zu einem Hidden Champion.
Info
Dieser Artikel ist zuerst in der Ausgabe 4/2021 von Der Neue Kämmerer erschienen.Mehr zu den Themen Digitale Verwaltung und Stadt von morgen finden Sie auf unseren Themenseiten.