Das Kamel im Nadelöhr des Haushalts

Die Fachzeitschrift „Der Neue Kämmerer“ wird 20 – und mit ihr der Deutsche Kämmerertag. Der Kämmerertag ist eine Leitveranstaltung für den öffentlichen Sektor. Die Jubiläumsveranstaltung des Kongresses für kommunale Finanzentscheider findet derzeit in Berlin statt. Christian Schuchardt ist von Beginn an dabei: anfangs als Kämmerer der Stadt Schwerte, dann als Kämmerer von Würzburg und heute als dortiger Oberbürgermeister. Gestern Abend eröffnete er den diesjährigen Kämmerertag. Was die Kommunen in den vergangenen 20 Jahren aus seiner Sicht besonders bewegt hat und vor welchen großen Transformationsaufgaben sie heute stehen, erklärt er im Interview gegenüber DNK und #stadtvonmorgen.Wenn die Stunde des Kämmerers schlägtHerr Schuchardt, vor 20 Jahren wurden „Der Neue Kämmerer“ und mit ihm der Deutsche Kämmerertag aus der Taufe gehoben. Sie waren nicht nur sozusagen bei der Geburt dabei, sondern trugen bereits zu dieser Zeit kommunale Verantwortung als Kämmerer. Wenn Sie zurückschauen: Vor welchen Hausforderungen standen denn die Kommunen vor 20 Jahren?Ein die Kämmereien bestimmendes Thema damals war die schiere Haushaltsnot. Nach der Jahrtausendwende und der Entwicklung der 1990er Jahre zeichnete sich ein Bruch ab, der die Bundesrepublik zum „lahmen Mann Europas“ machte. Auf die Kommunen wirkten Faktoren wie der Einbruch der Gewerbesteuer, der Anstieg sozialer Lasten sowie das Phänomen eines stockenden Baugewerbes und Wohnungsbaus. Würzburg verzeichnete tendenziell sogar rückläufige Bodenrichtwerte. Ein weiteres Thema, das die Kämmereien in den 2000er Jahren bewegte, war die Umstellung der Kameralistik auf Doppik. Die Erwartungshaltung dahinter war, Werte besser darstellen und über die sogenannte Produktsteuerung effizienter wirken zu können als über die sogenannte Ressourcenbereitstellung. Zudem war die damalige Zeit eine Rushtime der Derivate, und wir befanden uns im auslaufenden Privatisierungshype der zweiten Hälfte der 1990er Jahre.Sie sprechen von finanziell aufwühlenden Zeiten, von konjunkturellen Sorgen, vom stockenden Wohnungsbau – alles Themen, die nach wie vor aktuell sind. Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht in der Zeit geirrt haben?Absolut sicher. Ich habe mich garantiert nicht in der Zeit geirrt. Für viele Themen gibt es Zyklen. Beispielsweise ist das Thema der Gewerbesteuer – vor allem, wenn sie rückläufig ist – als Haupteinnahmequelle immer wieder relevant für Kommunen. Genauso sind es Effekte auf der Ausgabenseite, etwa im Sozialbereich. Das sind die Themen des Kämmerers. Oder: Das ist die Stunde des Kämmerers. Je knapper Haushaltsmittel sind, umso bedeutender ist die Rolle des Kämmerers und die der Finanzverantwortlichen.Rückblick: Die Doppik als Meilenstein Begleitet DNK von Beginn an: Der Ex-Kämmerer und Oberbürgermeister Christian Schuchardt spricht zum 20. Deutschen Kämmerertag in Berlin. (Quelle: FBM/Paul Jasper Moragiannis) Sie sprechen von Zyklen, von wiederkehrenden Themen. Was lehren uns die vergangenen 20 Jahre in der Rückschau? Was lässt sich von ihnen ableiten beispielsweise hinsichtlich der von Ihnen angesprochenen Schwankungen der Gewerbesteuer: Braucht es eine stabilere, konjunkturunabhängigere Finanzquelle als die Gewerbesteuer für Kommunen?Das ist eine Diskussion, die alle Jahre wieder aufkommt. Genau wie die Diskussion um Konnexität, also die auskömmliche Finanzierung von Aufgaben, die Kommunen von Bund und Ländern übertragen bekommen. Es braucht schlicht und ergreifend eine aufgabenangemessene Mittelzuweisung. Auch die Frage nach der Beteiligung an der Einkommensteuer taucht immer wieder auf. Das alles sind Themen, über die Kommunen zeitlos klagen können – was darauf hindeutet, dass hier eine strukturelle Veränderungsnotwendigkeit besteht. Die Kommunen bestreiten den größten Teil der Investitionen der öffentlichen Hand. Darunter sind systemrelevante Investitionen in die Zukunftsfähigkeit des Landes. Beispielsweise in Schulen und Kitas. Dass aber manche Schule so aussieht, als hätte man sie selbst besucht und sich seitdem baulich nichts verändert, ist ein Zeugnis des Investitionsstaus, der die Kommunen betrifft.Lassen Sie uns noch einmal in den Rückspiegel schauen. Welche Krisen waren aus Ihrer Sicht in den vergangenen 20 Jahren die einschneidenden für die kommunale Welt? Und welche Ereignisse waren Meilensteine?Ein Meilenstein aus Sicht der Kämmerei ist die Umstellung auf die Doppik. Wenn sich hinsichtlich der Zielsteuerung auch nicht alle diesbezüglichen Erwartungen erfüllt haben, hat die Umstellung doch nahezu alle Erlebniswelten in den Kommunen betroffen. Sie prägt das gesamte Denken im Rechnungswesen der Verwaltungseinheiten und war damit eines der größten „verwaltungsinternen“ Themen. Ähnliches gilt für die Veränderung der Arbeitswelten und den zunehmenden Fachkräftemangel. Mit Letzterem geht einher, dass für die Umsetzung von Zukunftsvorhaben nicht mehr nur das Geld begrenzend wirkt, sondern auch die Verfügbarkeit von Arbeitsleistung. Ein Teil der Antwort auf den Personalmangel ist die Digitalisierung – gleichzeitig stellt die digitale Transformation wiederum eine große Herausforderung für Verwaltungen dar. Zu den Megathemen mit gesellschaftlicher Dimension gehört aus kommunaler Sicht natürlich die sich verändernde Zusammensetzung der Bevölkerung. Markante Ereignisse dafür sind die sogenannte Flüchtlingskrise um 2015 und die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge im aktuellen Ukrainekonflikt. Insbesondere die lokale Ebene ist es, auf der der schubweise Anstieg der Bevölkerungszahlen bewältigt werden muss. Hier gilt es, der nicht planbaren Notwendigkeit zur Bereitstellung neuer Infrastruktur – exemplarisch Kitaplätze oder Wohnungsbau – zu entsprechen.Nachhaltigkeit nach dem ESG-PrinzipBei der Bewältigung all der Aufgaben, die auf die Kommunen einprasseln: Welche Erfahrungswerte und Erkenntnisse haben Sie gesammelt?Es gilt immer, die Balance zu finden zwischen Ansprüchen, Möglichkeiten und Ressourcen beziehungsweise Finanzmitteln. Es gibt viele berechtigte und nachvollziehbare Ansprüche. Doch am Ende muss ihre Umsetzung zu bewältigen sein. Ich denke – etwas weiter als 20 Jahre zurückblickend – an das berühmte Zitat des römischen Philosophen Cicero: „Der Staatshaushalt muss ausgeglichen sein, öffentliche Schulden müssen verringert werden, die Arroganz der Behörden muss gemäßigt und kontrolliert werden.“ Die pauschale Kritik hinsichtlich der „Arroganz der Behörden“ weise ich aus Sicht eines Kommunalverantwortlichen natürlich zurück. Doch in die Moderne übersetzt steht Ciceros Gedanke wohl unter der großen Überschrift „ESG“. Auch das Thema der Nachhaltigkeit ist eine Frage der Balance.Inwiefern?In den vergangenen Jahren haben wir Nachhaltigkeit gerade in Stadtgesellschaften oft im Kontext der Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ oder des Ausrufens des Klimanotstands diskutiert. Wir waren also stark auf das E, Environmental oder Ökologie, fokussiert. Auf der kommunalen Ebene muss es aber auch um das S, soziale Nachhaltigkeit, und um das G, die Governance, gehen. Das G der Nachhaltigkeit bedeutet auch Generationengerechtigkeit beim Schuldenstand, den wir sowohl unseren Kindern als auch den Nachfolgern in unseren Ämtern hinterlassen.Urbane Transformation: Priorisierung von InvestitionenUnser Interview über die vergangenen 20 Jahre ist bislang stark von der Sicht des Kämmerers geprägt. Sie haben in dieser Zeit – genauer: 2014 – den Wechsel aus der Kämmerei ins Oberbürgermeisterbüro vollzogen. Hat dieser Karriereschritt Ihre Sichtweise auf „Stadt“ verändert?Ja und nein. Denn die Sicht eines Kämmerers und die eines Oberbürgermeisters sind zwei Seiten einer Medaille. Der Kämmerer betrachtet insbesondere die Input- oder Ressourcenseite, der Oberbürgermeister schaut eher auf die Output- oder Outcomeseite, betrachtet die Wirkung. Dazwischen findet der Prozess statt, kommen Akteure wie Bürger, der Stadtrat oder die Verwaltung ins Spiel. In diesem Prozess nimmt der Oberbürgermeister eine strategische und moderierende Rolle ein. Dadurch steht er eher im „Kundenkontakt“ mit Bürgern, Institutionen oder Unternehmen. Im Vergleich zum „Ressourcenmanager“ Kämmerer, der vorwiegend innerhalb der Verwaltung agiert, ist der Oberbürgermeister viel stärker im Fokus der Öffentlichkeit, da er das Ergebnis eines Prozesses vermittelt. Wenn beide zusammenspielen, dann sind sie ein unschlagbares Team, um effektiv und bürgerorientiert Aufgaben zu bewältigen. Um dort, wo Ressourcenknappheit herrscht, gegenüber höheren Ansprüchen das Verständnis für vorhandene Zwänge zu erreichen. Und durchaus auch, um der Politik zu zeigen, welche Beschlüsse notwendig sind. Zwischen Tradition und Transformation: die bayerische Stadt Würzburg. (Quelle: Stadt Würzburg/Ugur Yurdagül) Lassen Sie uns vom Rückblick zum Ausblick kommen. Wenn Sie auf die heutigen Herausforderungen der Kommunen blicken: Welche drängen besonders, welches sind die wichtigsten Zukunftsaufgaben?Für alle Städte stellen sich der Klimawandel und mit ihm die Energiewende derzeit als die größten Herausforderungen dar. Nehmen wir die Wärmewende: Sie erfolgt auf der lokalen Ebene. Mit ihr sind erhebliche Investitionen nicht nur durch die öffentliche Hand verbunden, sondern auch durch Unternehmen, Privatpersonen oder Immobilienbesitzer. Ebenso werden städtebaulich im Zeichen der Klimaanpassung zunehmend Investitionen notwendig. Gerade wir in Würzburg sind mit unseren topografischen Bedingungen und unserer Talkessellage vergleichsweise stark von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Wir erleben beispielsweise eine steigende Anzahl tropischer Nächte. Entsprechend sind wir schon recht früh ins Handeln gekommen und haben entsprechende Maßnahmen ergriffen. Bei all diesen Transformationsaufgaben stellt sich die Frage der Balance und der Finanzierung. Es gilt, die Maßnahmen nach ihrer größtmöglichen Wirkung in den Dimensionen E, S und G zu priorisieren.Energiewende, Verkehrswende, Gebäudebestand Wenn Sie über die große Transformation und Priorisierung sprechen: Welche erachten Sie konkret als die wichtigsten Themenfelder?Zum Ersten gilt es, Investition in das Wärmenetz zu tätigen – die Wärmewende also. Zum Zweiten geht es um den Modal Split – die Verkehrswende. In Würzburg nimmt dabei der Ausbau des Straßenbahnsystems viel Raum ein. Zum Dritten denke ich an den kommunalen Gebäudebestand – sowohl aus energetischen Gesichtspunkten als auch, was die soziale Infrastruktur von Kindergärten bis Schulen betrifft.Das sind große Aufgaben. Was braucht es dazu, diese zu meistern? Außer Geld …Es braucht auf kommunaler Ebene eine klare Reihenfolge, die Dinge bei gegebener Mittelknappheit – die es immer gibt – anzugehen und abzuarbeiten. Es gilt, das Kamel durch das Nadelöhr des Haushalts zu bringen. Wichtig ist vor allem, dass dies nicht nach dem Zufallsprinzip geschieht, sondern möglichst strategisch und analytisch. Es geht um die Priorisierung von Investitionen. Nehmen wir das Beispiel der Umstellung der Straßenbeleuchtung auf LED: Dass sich die Investition in der Regel selbst amortisiert, spricht dafür, ihr eine hohe Priorität einzuräumen.An Bund und Länder: „Versucht’s mal mit Vertrauen!“Sie sprechen über die Kommunen selbst. Doch an vielen Stellen setzen Bund und Länder den Rahmen für die Transformation. Welche Stellschrauben sind denn hier zu drehen? Würden Sie den höheren staatlichen Ebenen etwas zurufen wollen?Ja: Versucht’s mal mit Vertrauen! Nicht zuletzt in der Flüchtlingskrise, während der Coronapandemie oder im Kontext des Ukrainekonflikts haben die Kommunen gezeigt, dass sie Problemlöser sind und dass sie in hoher Eigenverantwortung handeln können. Insofern bedarf es nicht immer neuer Förderprogramme, die einen bürokratischen Aufwand mit sich bringen. Weitaus zielführender wäre, wenn gerade hinsichtlich epochaler Transformationsprozesse, für die es keine Blaupause gibt, die Mittelbereitstellung wirkungsorientiert und pauschal erfolgt. Denn die Kommunen wissen am besten, wo vor Ort der Schuh drückt und mit welchen Maßnahmen sie die größte Wirkung entfalten. Dafür brauchen sie das Vertrauen, mit dem sie flexibel und unbürokratisch agieren können.a.erb@derneuekaemmerer.de

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