Woran es bei der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) noch hapert und was die Kommunen jetzt beachten müssen, erklärt Markus Richter, Beauftragter der Bundesregierung für Informationstechnik, im Interview.

Herr Richter, als IT-Beauftragter der Bundesregierung verantworten Sie die föderale Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes. Knapp 600 Verwaltungsdienstleistungen sollen bis Ende kommenden Jahres online verfügbar sein. Ist das realistisch?
Unser Ziel ist, bis Ende 2022 faktisch sämtliche Verwaltungsdienstleistungen zur Verfügung zu stellen, und es sieht so aus, als würden wir das technisch schaffen. Allerdings gibt es eine große Einschränkung bei der Frage, ob wir es schaffen, das auch in der Fläche zu skalieren. Ob bis dahin wirklich alle rund 11.000 Kommunen angeschlossen sind? Das sehe ich eher kritisch. Denn die Digitalisierung ist mehr als nur Technik. Ein Beispiel: Es wurde ein digitaler Bauantrag in Mecklenburg-Vorpommern entwickelt. Bauanträge müssen damit nicht mehr in dreifacher Ausführung vorgelegt werden, stattdessen können alle beteiligten Ämter das Dokument gleichzeitig elektronisch bearbeiten. Die technischen Voraussetzungen sind also da, leider wird der digitale Antrag aber bisher trotzdem nur in einzelnen Kommunen eingesetzt.

„Die Bereitschaft, die liebgewonnene Excel-Liste abzuschalten, muss natürlich da sein.“

Wieso werden die technischen Möglichkeiten in vielen Kommunen denn noch nicht genutzt?
Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist die Frage: Wo kann ich mich denn anschließen? Wir brauchen Plattformen auf Länderebene, auf die die Kommunen zugreifen können. Das Zweite ist ein Changeprozess. Vor Ort, bei den Landräten, Oberbürgermeistern und Kämmerern, ist noch ein Veränderungsprozess notwendig. Die Bereitschaft, die liebgewonnene Excel-Liste abzuschalten, muss natürlich da sein. Ich würde mir wünschen, dass die Kommunen die Digitalisierung zur Chefsache machen und jeweils eine eigene digitale Agenda aufsetzen.

Fehlt es etwa an Kommunikation zwischen den unterschiedlichen föderalen Ebenen?
Die OZG-Koordinatoren der Länder kümmern sich um das Thema Kommunikation. Ich glaube, die Kommunen sind insgesamt darüber informiert, was gesetzlich vorgeschrieben ist. Wir sitzen ja alle im selben Boot. Der Bund selbst hat schon 85 seiner 115 Leistungen digitalisiert [Anm. d. Red.: Stand Juli 2021]. Wir müssen natürlich transparent sein. Deshalb finde ich es gut, dass wir den Servicestandard erstellt haben – daran kann sich jede Kommune orientieren. Bundesseitig gibt es den Marktplatz der Nachnutzung. Dort kann man sehen, welche Leistungen schon digital verfügbar sind und wer der Ansprechpartner ist. Letztendlich besteht die Verwaltungsdigitalisierung gleichermaßen aus einer Bring- und einer Holschuld. Da im Laufe der Zeit mehr Leistungen dazukommen, ist sie auch eine Daueraufgabe und wird nie zu Ende sein.

Stimmt, laut dem Innenministerium wird der OZG-Umsetzungskatalog regelmäßig aktualisiert. Sind durch die Coronapandemie neue Punkte hinzugekommen?
Ja, es gibt laufend eine ganze Reihe neuer Leistungen: zunächst Corona-spezifische Leistungen wie die Überbrückungshilfe. Es sind aber auch Leistungen hinzugekommen, die das Virus nicht direkt bedingt, die aber zum Beispiel unter dem Gesichtspunkt geschaffen wurden, dass die Menschen mehr Zeit zu Hause verbringen. Denn dadurch müssen sie auch in anderen Themenfeldern digital partizipieren.

„Plattformen haben oberste Priorität.“

Welche Infrastrukturmaßnahmen sind denn jetzt erforderlich?
Plattformen haben oberste Priorität. Wichtig ist, dass nicht in jeder Kommune, also rund 11.000-mal, etwas entwickelt wird, sondern zentral an einer Stelle. Wir müssen auch ein einziges Plattformökosystem entwickeln, denn Plattformen, die nicht kommunizieren können, nützen niemandem etwas. Hierfür sollten Bund, Länder und Kommunen mit IT-Dienstleistern und Start-ups zusammenarbeiten. Länder wie Hamburg und Hessen haben hierfür einen Campus gegründet – ein interdisziplinäres Projekt, mit dem Ideen für die Stadt von morgen entwickelt werden.

Welche Plattformen können die Kommunen nutzen?
Hier setzen wir auf eine Cloudstrategie: Jeder Anbieter kann Cloud-Stack anbieten, eine offene Open-Source-Cloud-Management-Plattform, solange er gewisse Architekturvorgaben berücksichtigt. Diese werden gerade im IT-Planungsrat verabschiedet. Dazu wird es dann ein konkretes Handbuch geben. Der nächste Schritt sind offene Schnittstellen, auch hier brauchen wir Standards. Zum Beispiel sind bei der Adresseingabe in vielen Kommunen die Datenfelder unterschiedlich. Bei manchen steht in Formularen zuerst der Vorname, bei anderen wiederum der Nachname. Das führt dazu, dass die Datensätze auf anderer Ebene nicht automatisch kompatibel sind.

„Die Digitalisierung ist ein gutes Instrument, um gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen.“

Bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung hinkt Deutschland im europäischen Vergleich hinterher; gerade die Coronapandemie hat Versäumnisse offengelegt. Wie kann es in der Bundesrepublik gelingen, gleichwertige Lebensverhältnisse im digitalen Raum zu schaffen?
Erstens müssen die Angebote wirklich flächendeckend umgesetzt werden. Die Digitalisierung ist ein gutes Instrument, um gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Das zeigt zum Beispiel gerade das Home-Office: Man muss nicht mehr nah am Arbeitsplatz wohnen, sondern kann auch im ländlichen Raum arbeiten. Es müssen aber alle Zielgruppen adressiert werden, auch IT-ferne Gruppen. Dafür sind Kommunikationsstrategien mit Multiplikatoren vor Ort vonnöten.

Das Saarland, Hessen, Rheinland-Pfalz und Thüringen bilden gemeinsam einen OZG-Verbund. Die Bundesländer erhoffen sich davon, die Nachnutzung zu vereinfachen. Gibt es bei der OZG-Umsetzung Unterschiede zwischen den Bundesländern?
Nach dem „Einer für alle“-Prinzip ist pro Thema immer ein Bundesland dafür zuständig, die entsprechenden Leistungen zu entwickeln. Anders würde es gar nicht gehen, denn über 460 Implementierungsprojekte liegen bei den Bundesländern. Bei der Nachnutzung gibt es tatsächlich Unterschiede. Das liegt aber auch an strukturellen Kontexten: Baden-Württemberg hat sehr viele Kommunen, Hamburg als Stadtstaat kann da schneller agieren. Aber die Landes-CIOs und ich haben ein gemeinschaftliches Commitment. Jede Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Das „Einer für alle“-Prinzip müssen wir deshalb noch stärker umsetzen und die Einbindung der entwickelten Lösungen in alle Systeme sicherstellen. Es gibt auch positive Beispiele der Nachnutzung wie BAföG Digital. Das haben einige Bundesländer entwickelt – weil die Antragstellenden es so gut fanden, standen die anderen Länder natürlich unter Druck. Alle haben die neue Leistung deshalb sehr schnell umgesetzt.

Wie unterstützt der Bund die Kommunen finanziell bei der OZG-Umsetzung?
Eine direkte Mittelvergabe vom Bund an die Kommunen ist finanzverfassungsrechtlich nicht möglich. Der Bund stellt die Konjunkturmittel den Ländern, beziehungsweise in Bezug auf Themenfelder, für Digitalisierungsprojekte bereit. Die Länder müssen dafür Sorge tragen, dass auch die Kommunen vom OZG-Konjunkturprogramm profitieren. Mit dem Corona-Konjunkturprogramm hat der Bund 3 Milliarden Euro für die beschleunigte Umsetzung des OZG bereitgestellt. Diese bleiben Bundesmittel und werden bewirtschaftet. Einige Länder nehmen auch eigenes Geld in die Hand und bieten bestimmte Leistungen kostenfrei für ihre Kommunen an. Ich würde mir wünschen, dass das flächendeckend der Fall wäre. Natürlich haben aber auch nicht alle Bundesländer die gleichen Möglichkeiten. Das eine ist also das Finanzielle. Das andere ist das Rechtliche: Wenn eine Leistung aus einem anderen Bundesland kommt, ist auch nach dem Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung die Frage, ob die Kommune die Leistungen ausschreiben muss. Ein toller Mechanismus ist der FIT-Store von der FITKO. Der FIT-Store ist in Trägerschaft aller Länder und des Bundes und hängt am IT-Planungsrat.

„Mein Bestreben ist es, die föderalen Ebenen zu parallelisieren.“

Der Föderalismus macht es offenbar in einigen Bereichen schwer, bei der Digitalisierung einen übergeordneten Konsens zu finden. Wie packen Sie dieses Problem an?
Ich glaube, wir haben insgesamt drei Phasen vor uns: Gerade befinden wir uns in Phase 1, der Digitalisierung. Die digitalen Leistungen werden zur Verfügung gestellt. Phase 2 ist die Nachnutzung. In Phase 3 müssen wir die Harmonisierung dann interoperabel gestalten. Das heißt konkret: zurück zu weniger Anwendungen für viele. Wir müssen uns fragen: Wo wird eigentlich was betrieben? Ist es sinnvoll, bestimmte Leistungen einzeln in jeder Kommune anzubieten oder vielleicht besser nur einmal dezentral vom Land? Mein Bestreben ist es, die föderalen Ebenen zu parallelisieren. Wir brauchen natürlich entsprechende rechtliche Instrumente, um das gestalten zu können. Anpacken muss aber jeder. Jedes Ministerium ist ein Digitalministerium, denn das ist Fachaufgabe.

Was raten Sie den Kommunen, die bei der OZG-Umsetzung noch viel vor sich haben?
In jedem Fall würde ich empfehlen, den Marktplatz der Nachnutzung zu nutzen. Dort sind viele Basiskomponenten vorhanden, die bereits eingesetzt werden können. Dann ist die Vernetzung mit anderen Kommunen natürlich sinnvoll, denn geteiltes Leid ist halbes Leid. Ganz klar: Es sind Hürden da. Ich wage zu prognostizieren, dass wir mit Ablauf der OZG-Frist einen grünen Haken hinter alle 575 Leistungen setzen können. Trotzdem werden sich aber die Bürger fragen: „Warum sind in der Nachbarkommune Leistungen digitalisiert und hier nicht?“. Wir haben deshalb ein Dashboard eingeführt, das zeigt, wo wir als Bund stehen. Wir haben das auch kürzlich auf die Landes- und Landkreisebene erweitert. Das wird die Menschen sicher interessieren.

„Durch Corona hat die Digitalisierung angezogen, deshalb verschärfte sich auch der Kampf um IT-Fachkräfte.“

Wie Sie vorhin sagten, müssen die digitalen Lösungen langfristig betrieben werden. Dadurch bringt die Verwaltungsdigitalisierung einen hohen Personalbedarf mit sich: Schätzungen zufolge werden 46.600 IT-Fachkräfte benötigt. Gibt es hierfür entsprechend genug Personal in den Kommunen?
Das ist eine große Herausforderung. Durch Corona hat die Digitalisierung angezogen, deshalb verschärfte sich auch der Kampf um IT-Fachkräfte. Wir müssen Studiengänge unterstützen, die IT-Kräfte hervorbringen, und auch das IT-Studium des Bundes. Wichtig ist aber vor allem, dass wir digitale Fähigkeiten im Bestand vermitteln. Digitalisierung ist zunächst Fachaufgabe. Nicht alles muss an die IT-Abteilung delegiert werden, wenn die Verwaltungsmitarbeiter selbst entsprechend geschult sind. Hier sind die Kommunen gefragt – das passt wieder zum Thema Changemanagement. Die Kommunen sollten aber Unterstützung von den Bundesländern bekommen. Wir haben auf Bundesebene gerade zum Beispiel eine Digitalakademie gegründet, eine Plattform zur digitalen Qualifizierung der Bundesbediensteten.

„Kommunen sollten die Bedrohung unbedingt ernst nehmen.“

Stichwort IT-Sicherheit: Der Landkreis Anhalt-Bitterfeld war gerade einem Cyberangriff ausgesetzt und musste den Katastrophenfall ausrufen. Wie können Kommunen mit solchen Angriffen umgehen?
Ja, der Landkreis hatte Ransomware, auch Erpressungstrojaner genannt, auf den Servern. Die Hacker haben Daten des Kreises im Darknet veröffentlicht und Lösegeld gefordert. Die Verwaltung war daraufhin zwei Wochen nicht erreichbar und leidet heute noch unter dem Angriff. Am schlimmsten ist das sicherlich für die Menschen, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Zwar musste der Landkreis als erster den Notstand ausrufen, solche Angriffe finden aber leider häufiger statt. Diese Erfahrung ist bitter und zeigt, wie stark schon digital gearbeitet wird: Man kann auch nicht mehr einfach auf die Schreibmaschine ausweichen. Dadurch wächst natürlich auch die Anfälligkeit für Hackerangriffe. Kommunen sollten die Bedrohung unbedingt ernst nehmen. Sie können sich nach den Mindeststandards des Bundesamtes für Sicherheit und Informationstechnik richten. Aber das Wichtigste ist: Wir brauchen Security by Design. Meiner Meinung nach sollten die dezentralen Systeme IT-Sicherheit schon einbeziehen. Wo wir Ressourcen für Digitalisierung nutzen, müssen wir auch Ressourcen für IT-Sicherheit einplanen.

a.jarchau@derneuekaemmerer.de

Info

Das Interview wurde im Juli geführt und ist in der Ausgabe 3/2021 erschienen.

Mehr zum Thema finden Sie auf unserer Themenseite Onlinezugangsgesetz.

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