Die Zeit drängt: Steigende Zinsen belasten in finanziell schwachen und verschuldeten Kommunen die Haushalte zusätzlich. Außerdem machen sie eine Altschuldenlösung teurer. Daher sollten Bund und Länder jetzt handeln. Denn die Kommunen brauchen Handlungsfähigkeit: Ohne eine auskömmliche Finanzausstattung können sie wichtige Transformationsaufgaben wie die Energiewende nicht bewältigen. Das sagen Martin Murrack (SPD) und Christoph Gerbersmann (CDU) im DNK-Interview. Vor wenigen Tagen wurden die beiden Kämmerer aus Duisburg und Hagen zu neuen Sprechern des Aktionsbündnisses „Für die Würde unserer Städte“ gewählt. In dem Aktionsbündnis haben sich Kommunen zusammengeschlossen, die unter hohen Altschulden ächzen. Sie fordern eine Altschuldenlösung mit Hilfe des Bundes und der Länder.
Altschuldenlösung: „Die Zeit drängt!“
Herr Gerbersmann, Herr Murrack, beim letzten Bündnistreffen in Offenbach am 13. März wurden Sie zu neuen Sprechern des Aktionsbündnisses gewählt. Welches sind die Akzente, die Sie in Ihrer neuen Rolle setzen wollen?
Christoph Gerbersmann: Es braucht endlich eine Lösung in der Altschuldenfrage! Dafür sind aus meiner Sicht keine neuen Akzente in der Bündnisarbeit nötig, sondern endlich die Entscheidung von Bund und Ländern – in unserem Fall des Landes Nordrhein-Westfalen –, ob sie den Kommunen nun konkret helfen oder ob sie die Kommunen nur weiter hinhalten. Letzteres ist nicht mehr möglich. Die ansteigenden Zinsen belasten die Kommunalfinanzen perspektivisch immer stärker. Je nach Laufzeit kann dies drei bis vier Prozent pro Jahr ausmachen. Beispiel Hagen: Wir haben 900 Millionen Euro an Kassenkrediten. Voraussichtlich werden wir 2026 zehn Millionen Euro pro Jahr mehr an Zinsen zahlen müssen als heute. Die Zeit drängt also aus zwei Gründen: Erstens wird die Luft für finanzschwache und verschuldete Kommunen immer dünner. Dadurch drohen die Konsolidierungserfolge, die sie mit großer Mühe und unter hoher Belastung der Bürger erreicht haben, verloren zu gehen. Zweitens wird eine Altschuldenlösung mit steigenden Zinsen perspektivisch auch für Bund und Länder immer teurer. 2023 ist für das Bündnis durchaus ein Schicksalsjahr. Sollte es nicht gelingen, mit dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Bund zu einer Altschuldenregelung zu kommen, dann spitzt sich die Finanzsituation vieler Städte gefährlich zu.
Martin Murrack: Was das Verständnis unserer neuen Rolle betrifft, sehen wir uns in Kontinuität zu unseren Vorgängern Johannes Slawig und Jörg Stüdemann. Dass die Frage nach einer auskömmlichen Finanzierung der Kommunen auf die Agenda gekommen ist – sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch im Bund –, bewerten wir nicht zuletzt als einen Erfolg der Bündnisarbeit. Doch man muss angesichts des Zinsanstiegs leider sagen: Für eine Altschuldenlösung ist der günstigste Zeitpunkt verpasst. Und sie wird von Tag zu Tag, von Monat zu Monat teurer. Derweil zeigen gerade die aktuellen Krisen wie die Coronapandemie, der Ukrainekonflikt und die Flüchtlingsaufnahme oder die Energiekrise, wie wichtig handlungsfähige Kommunen sind. Diese Handlungsfähigkeit ist bedroht.
Christoph Gerbersmann: Auch in Offenbach haben wir darauf aufmerksam gemacht: Uns läuft die Zeit davon! Selbst, wenn ad hoc ein Lösungsmodell auf dem Tisch läge, bräuchte dessen Umsetzung Zeit. Insofern ist mit der Umsetzung einer Altschuldenlösung vor dem 1. Januar 2024 nicht zu rechnen. Und selbst dieser Zeitpunkt ist angesichts der parlamentarischen Prozesse noch überaus optimistisch.
„Es braucht immer die Hilfe des Bundes“
Sie sprechen vorwiegend von Ihrem Herkunftsland Nordrhein-Westfalen. Andere Länder, in denen eine hohe Kommunalverschuldung besteht – Hessen, das Saarland und Rheinland-Pfalz –, haben zuletzt Entschuldungsprogramme für ihre Kommunen angelegt. Wie zukunftsfähig ist also das Bündnis, in dem Kommunen auch aus diesen Bundesländern vertreten sind? Worin besteht Einigkeit, wo liegen Gemeinsamkeiten?
Christoph Gerbersmann: Einigkeit besteht absolut und nach wie vor. Das hängt damit zusammen, dass die Länder alleine das Altschuldenproblem nicht komplett lösen können und es immer die Hilfe des Bundes braucht. Beispielsweise schildern Kollegen aus dem Saarland die Situation, dass sich das Land zwar auf den Weg einer Altschuldenlösung gemacht hat, sie als Kommunen aber auch im Fall der Landeshilfe 30 Jahre den Gürtel enger schnallen müssen, um zur Konsolidierung beizutragen. Der Altschuldenabbau bleibt also trotz der Hilfe des Landes für diese Kommunen eine anstrengende Generationenaufgabe. Deswegen ist es unabdingbar, dass der Bund sich daran beteiligt. Ohne Bundesbeteiligung wird es nicht gelingen, die Kommunen so zu entlasten, dass sie neben der Lösung der Altschuldenfrage die finanzielle „Luft“ haben, notwendige Investitionen anzugehen. Schließlich hat der Bund mit seiner Sozialgesetzgebung und den damit verbundenen, nicht auskömmlich finanzierten Aufgaben, die die Kommunen zu schultern haben, einen wesentlichen Anteil am Aufwuchs der Altschulden. Daher ist er in einer besonderen Verantwortung. Übrigens weist die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ in ihrem 2019 vorgelegten Bericht ebenfalls auf die Notwendigkeit einer Altschuldenlösung hin.
Martin Murrack: Einigkeit zwischen den Bündnisstädten besteht nicht nur in ihrem Ruf nach einer Altschuldenlösung, sondern auch bei verwandten Themen, die wir auf der Agenda haben. Dabei geht es um das Streben nach gleichwertigen Lebensverhältnissen und das Einfordern des Konnexitätsprinzips von Bund und Ländern. In Offenbach haben wir außerdem über das Thema „Steueroasen“ gesprochen und darüber, welche Effekte ein zu starkes Gefälle von Gewerbesteuerhebesätzen zwischen Kommunen hat.
NRW: „Das Warten auf den Bund darf keine Ausrede sein“
Doch wie realistisch ist es denn aus Ihrer Sicht, dass es zeitnah zu einer Altschuldenlösung mit Bundeshilfe kommt? Diesbezüglich weckt der Koalitionsvertrag der Bundesregierung Optimismus. Doch gleichzeitig weist die Bundesregierung darauf hin, dass es für eine Altschuldenlösung einer Grundgesetzänderung bedarf. Da kommen nun die Union und der Bundesrat ins Spiel. Die Opposition positionierte sich bislang bremsend, und aus Ländern, deren Kommunen weniger von Altschulden betroffen sind, kommen ebenfalls abwehrende Signale. Wird die Altschuldenlösung also in den Mühlen der Politik zermahlen? Am Ende gibt es vom Bund kein Geld, und keiner will der Verhinderer gewesen sein …
Martin Murrack: Ich glaube, dass man die Position der Union mit Sorgfalt betrachten muss, insbesondere auf Bundesebene. Auch in unserem Bündnis gibt es genügend Vertreter der CDU, die die Argumente der Kommunen an den richtigen Stellen platzieren. Richtig ist, dass die Bundesregierung eine Altschuldenregelung ohne Grundgesetzänderung nicht sieht. Ich schätze aber auch vor dem Hintergrund, wie zuletzt über die Übernahme eines höheren Anteils an den Kosten der Unterkunft durch den Bund diskutiert wurde, eine entsprechende Mehrheit im Bundesrat nicht als abwegig ein. Ich glaube auch, dass sich damit Lösungen für andere Probleme wie die der Wohnungsbaualtschulden im Osten der Republik oder nötige Investitionsunterstützungen verbinden lassen könnten. Doch unabhängig von der Altschuldenlösung auf Bundesebene muss unser Ruf an das Land Nordrhein-Westfalen gehen: Es eilt! Das Warten auf den Bund darf keine Ausrede sein, nicht voranzuschreiten!
Christoph Gerbersmann: Wichtig ist vor allem, dass endlich ein konkreter Vorschlag auf den Tisch kommt. Solange das nicht der Fall ist, kann die politische Debatte nicht vorangehen.
Wie groß ist denn das Altschuldenproblem?
Martin Murrack: Für Nordrhein-Westfalen lässt es sich mit 21 Milliarden Euro beziffern. Insgesamt gehen wir bundesweit von rund 31,3 Milliarden Euro aus. Im Vergleich zu den jüngsten Sondervermögen des Bundes in dreistelliger Milliardenhöhe ist das keine erschreckend hohe Zahl, aber eine, die die Handlungsfähigkeit der betroffenen Kommunen ausmacht – nicht zuletzt hinsichtlich großer Aufgaben wie der Energie- und der Mobilitätswende. Das schaffen wir nicht ohne Unterstützung.
Für die Transformation braucht es Finanzkraft
Sie sagen es: Das eine ist die Vergangenheitsbewältigung, der Schuldenabbau. Das andere sind die Transformationsaufgaben, die vor uns liegen. Der Kampf gegen den Klimawandel und das Streben nach Klimaneutralität erfordern einen tiefgreifenden Umbau – und hohe Zukunftsinvestitionen.
Christoph Gerbersmann: Deswegen reicht es nicht, wenn einzelne Bundesländer mit durchaus begrüßenswerten Lösungsansätzen vorangehen. Es braucht in Summe aber alle drei Ebenen: die Kommunen, die Länder und den Bund. Nur so lassen sich die großen Zukunftsaufgaben bewältigen.
Martin Murrack: … und ohne die Handlungsfähigkeit der Kommunen stockt auch die gesellschaftliche Transformation. Allein, wenn ich an die energetische Sanierung des kommunalen Gebäudebestands denke: Wenn das nicht gelingt oder nur die finanzstarken Kommunen entsprechend investieren können, gerät die Energiewende in Schieflage.
Christoph Gerbersmann: Angesichts der Transformationsaufgaben in allen Bereichen, nicht zuletzt dem der Digitalisierung, sehe ich das große Problem – Stichwort: Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse –, dass finanzschwache Kommunen immer weiter abgehängt werden. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Oft ist der Hinweis zu hören, dass es den Städten finanziell insgesamt doch besser gehe als dem Bund und den Ländern. Das mag im Durchschnitt so sein, ist aber nicht durchweg der Fall. Denn viele Kommunen stehen unter einem hohen Konsolidierungsdruck. Wo es möglich ist, bauen wir Kassenkredite ab, leisten Eigenanteile in Entschuldungsprogrammen – aber auch die müssen leistbar sein. Oft gelingt das nur in Steuerspitzenjahren und mit größten Anstrengungen. So ist es vielen Städten schlicht nicht möglich, aus eigener Kraft aus der Negativspirale herauszukommen.
In Sachen Altschuldenlösung optimistisch
Sind Sie dennoch hoffnungsfroh, was eine Altschuldenlösung mit Bundeshilfe betrifft?
Martin Murrack: Ich bin optimistisch, dass die Entscheidungsträger in Land und Bund die Handlungsnotwendigkeit erkannt haben und dass unser aller Engagement der letzten Jahre zeitnah zu einem Erfolg führt.
Christoph Gerbersmann: Wenn endlich ein Lösungsmodell auf dem Tisch liegt, über das diskutiert werden kann, glaube ich nicht, dass die Sache im Bundestag am Ende keine Mehrheit findet. Allein unser Bündnis repräsentiert rund zehn Prozent der deutschen Bevölkerung, die vom kommunalen Altschuldenproblem betroffen sind. Man kann es sich politisch nicht erlauben, diesen großen Teil einfach „abzuhängen“. Und wenn ich das Problem weiterdenke, geht es ja nicht nur um die Altschuldenbetroffenheit, sondern grundsätzlich um eine angemessene Finanzausstattung der Kommunen, die wirkungsvoller ist als punktuelle, teils verwirrende Förderprogramme. Es gibt viele Finanzthemen, mit denen die von Altschulden betroffenen Städte Verbündete finden.
Altschulden als gesamtgesellschaftliches Problem
Apropos Verbündete: Wie sehen Sie denn die Solidarität innerhalb der kommunalen Familie für Ihr Anliegen? Städte in Baden-Württemberg oder Bayern sehen es bisweilen anders als Städte in Nordrhein-Westfalen, und während der Deutsche Städtetag und der Städte- und Gemeindebund sich für eine Altschuldenlösung aussprechen, nimmt der Landkreistag eine gegenteilige Position ein. Kritiker sagen, die betroffenen Städte seien an ihrer Misere selbst schuld.
Christoph Gerbersmann: Dass sie selbstverschuldet in Not geraten sind, ist eine erwiesenermaßen falsche Behauptung. Städte, die finanziell besser aufgestellt sind, haben meist nicht die gravierenden Brüche und die damit einhergehenden sozialen Herausforderungen zu verkraften wie wir sie etwa mit dem Strukturwandel im Ruhrgebiet erleben. Die Ergebnisse der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ bestätigen diesen Befund auf der politischen Ebene. Die Solidarität dafür im Kreis der Städte ist groß. Es besteht ein breites Bewusstsein darüber, dass das Altschuldenproblem ein gesamtgesellschaftliches Problem ist und auch nur als solches angegangen werden kann. Die Debatte darüber, ob diejenigen, die weniger von Altschulden betroffen sind, „auch etwas abbekommen“, wenn es zur Lösung des Altschuldenproblems kommt, ist nicht zielführend. Wenn ich an große gesamtgesellschaftliche Transformationsaufgaben wie die Energiewende denke, stellt ja auch keiner in Frage, dass sich die Leitung, die Bayern mit Windstrom aus dem Norden versorgt, durch andere Kommunen und Bundesländer zieht. Wenn wir die Probleme in Deutschland lösen wollen, sitzen wir alle in einem Boot – das geht nur gesamtgesellschaftlich und solidarisch.
Martin Murrack: Grundsätzlich ist Solidarität für unser Anliegen vorhanden, zumindest ist nichts Gegenteiliges wahrzunehmen. Ich denke etwa an die rheinland-pfälzische Stadt Mainz, die lange mit uns gekämpft hat, deren Finanzlage sich nun erfreulicherweise ins Positive gewendet hat, die aber trotzdem unserem Aktionsbündnis treubleibt. Davon, dass sich das Gefälle zwischen den reichen und armen Kommunen vergrößert, hat keiner etwas. Übrigens betrifft das Altschuldenproblem nicht nur die größeren Städte, sondern auch viele kleinere Gemeinden im kreisangehörigen Raum. Deren Probleme werden in der öffentlichen Debatte allerdings weniger stark wahrgenommen.
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Er arbeitet insbesondere an der Weiterentwicklung der Plattform #stadtvonmorgen und berichtet dabei vorwiegend über urbane Transformationsprozesse. Für die Redaktion von „Der Neue Kämmerer“ beleuchtet er diese Themen aus Perspektive der Kommunalfinanzen. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.