Herr Weeke, voraussichtlich zum April kommenden Jahres geben Sie das Amt des Kämmerers auf. In einer Pressemitteilung fanden Sie deutliche Worte: Es seien extrem kräftezehrende Jahre gewesen, in denen sich aus der Rückschau Krise an Krise gereiht habe. Welche Krisen meinen Sie damit?
Zuerst kam die Finanzkrise. Ich bin zum 1. Juli 2008 als Kämmerer in Solingen gestartet. Eine meiner ersten Amtshandlungen war der Doppelhaushalt 2009/2010. Ich erinnere mich gut an meine Haushaltsrede. Da habe ich gesagt: „In den USA passiert etwas Bemerkenswertes – da gibt es eine Immobilienblase, die gerade platzt.“ Die globalen Auswirkungen habe ich damals selbstverständlich noch nicht einschätzen können, dennoch ahnte ich, dass es uns auch in Solingen bös’ erwischen würde.
Welche Auswirkungen auf Solingen hatte die Finanzkrise 2008/2009 denn rückblickend?
Viele Vorhaben der Stadt wurden durch die Finanzkrise faktisch unmöglich gemacht. Wir hatten damals schon eine schwierige Situation. Zum einen mussten wir ein Haushaltssicherungskonzept vorlegen: Eine meiner Aufgaben als Kämmerer war, den chronisch defizitären Haushalt Solingens nach gerade erfolgter Umstellung auf das Neue Kommunale Finanzmanagement (NKF) in Richtung schwarzer Null zu bringen. Die Folgen der Finanzkrise für die kommunalen Haushalte haben das massiv konterkariert. Statt um einen Haushaltsausgleich ging es schließlich nur noch darum, den Zeitpunkt der Überschuldung so lange wie möglich hinauszuzögern.
Dafür wurden wir kreativ: 2010 haben wir zum Beispiel als eine der ersten Kommunen ein digitales Bürgerhaushaltsprojekt – die sogenannte „bürgerbeteiligte Haushaltssicherung“ – durchgeführt. Die Bürgerinnen und Bürger konnten im Netz über Konsolidierungsmaßnahmen abstimmen und selber Sparvorschläge einreichen. Daraufhin haben wir beispielsweise beschlossen, unser Fußballstadion zu veräußern und das Gelände einschließlich Nebenflächen als Wohnbauland zu veräußern. Das wäre zuvor politisch unvorstellbar gewesen.
Als Kämmerer auf Widerstand gestoßen
Das Solinger Stadion ist erst 2018 abgerissen worden, eine Wohnsiedlung wurde gerade erst fertiggestellt. Das zeigt: Kämmereiprojekte sind häufig langwierig. Führt das zu Unmut bei den Bürgerinnen und Bürgern?
Als Kämmerer treffen Sie immer auf Widerstand. Die Menschen finden zwar, man müsse Schulden tilgen. Aber wenn man konkret vorschlägt, dass etwa das örtliche Schwimmbad geschlossen werden soll, lautet die Antwort natürlich nein. Abstrakt ist immer gut; sobald einige Bürgerinnen und Bürger aber unmittelbar selbst betroffen sind, sind sie gegen die Maßnahmen und organisieren Proteste. Auf Widerstand bin ich als Kämmerer allerdings nicht nur in Teilen der Bevölkerung oder der Politik gestoßen.
„Was mich sehr geärgert hat, war beispielsweise die Entstehungsgeschichte des Stärkungspaktes Stadtfinanzen in NRW im Jahr 2011.“
Was mich sehr geärgert hat, war beispielsweise die Entstehungsgeschichte des Stärkungspaktes Stadtfinanzen in NRW im Jahr 2011. Ursprünglich war geplant, nur den Kommunen zu helfen, die bis einschließlich 2013 planerisch überschuldet waren. Solingen brauchte aber dank unserer Sparanstrengungen sein Eigenkapital „erst“ 2014 auf. Mit anderen Worten: Wer gespart hatte, sollte bestraft werden. Ich habe mich deshalb damals in Düsseldorf hinter den Kulissen sehr vehement für eine zweite Stufe des Paktes eingesetzt, die dann ja vor allem dank der NRW-Grünen auch gekommen ist. Dafür gab es reichlich Anfeindungen, insbesondere von meiner eigenen Partei [Anm. d. Red.: der SPD]. Vieles von dem, was die Menschen vom Kämmerer wahrnehmen, macht nur einen kleinen Teil aus. Das meiste findet hinter den Kulissen statt.
Flüchtlingskrise, Coronakrise und Hochwasserkrise
„ Ich wurde beschimpft und bedroht – allerdings ausnahmsweise nicht für Sparmaßnahmen.“
Sie sprachen von mehreren Krisen im Laufe Ihrer Karriere. Wann kam die nächste?
Eigentlich gab es kein Jahr ohne Krise. Aber die nächste richtig große war die Flüchtlingskrise 2015. Unser damaliger Sozialdezernent wechselte in eine andere Stadt, und ich als sein Vertreter musste – mitten in der heißen Phase – rund ein halbes Jahr lang einspringen. Neben all den Finanzierungsfragen fand ich mich plötzlich bei Bürgerveranstaltungen zur Einrichtung von Flüchtlingsunterkünften wieder. Ich wurde beschimpft und bedroht – allerdings ausnahmsweise nicht für Sparmaßnahmen. Trotz aller Krisen haben wir 2018, vor allem auch dank Stärkungspakt und eigener Konsolidierung, den Haushaltsausgleich geschafft. 2019 auch. Darauf war ich wirklich stolz. Und dachte zu diesem Zeitpunkt, wir wären endlich auf einem guten Weg, wir kriegen das hin …
… und dann brach 2020 Covid-19 aus?
Ja, dann kam Corona, und alles fiel in sich zusammen. Steuereinbrüche, Krisenbewältigung: Im Haushalt fehlten schnell wieder über 50 Millionen Euro. Nur durch die Coronabilanzierungshilfe des Landes, vor allem aber durch echte Hilfen wie die Erhöhung des Bundesanteils an den Kosten der Unterkunft und der Erstattung der Gewerbesteuerausfälle konnten wir 2020 ganz knapp ein positives Jahresergebnis erreichen. So wäre es auch im laufenden Jahr 2021 gewesen. Doch dann ereignete sich zu allem Überfluss die Hochwasserkatastrophe im Juli.
„Ich fühlte mich einmal mehr wie der berühmte Sisyphos der griechischen Mythologie“
Das Hochwasser hat die Stadt Solingen stark getroffen. Vorläufige Schätzungen gehen von Schäden in Höhe von 31 Millionen Euro aus.
Ja. Damit können wir den Haushalt 2021 trotz aller Anstrengungen nicht mehr ausgleichen. Dass ich über eine berufliche Veränderung nachdenken sollte, wurde mir eigentlich durch die Coronakrise deutlich. Ich fühlte mich einmal mehr wie der berühmte Sisyphos der griechischen Mythologie und habe festgestellt, dass mir die letztlich ewig gleichen Themen nach fast 14 Jahren zum Halse heraushängen. Nicht selten verfolgten sie mich bis in die Nacht. Das Amt des Kämmerers in einer finanzschwachen Kommune geht einem an die Substanz.
Aus meiner Sicht hätte Solingen deutlich mehr Unterstützung gebraucht. Ein Beispiel: Wenn der Stärkungspakt in NRW ausläuft und damit die finanzielle Hilfe des Landes an dieser Stelle endet, die Sozialkosten jedoch weiter unvermindert ansteigen und gleichzeitig kein ausreichender Ausgleich der Coronaschäden durch Bund und Land erfolgt, sind die finanzschwachen Städte in NRW aufgeschmissen. Wie stark sollen wir die Realsteuerhebesätze eigentlich noch erhöhen, um das auszugleichen? Dann sind wir wieder voll in der schon oft zitierten „Vergeblichkeitsfalle“.
Teure Verstöße gegen das Konnexitätsprinzip
Also machen Sie auch den Bund und das Land NRW für die prekäre Finanzsituation Solingens verantwortlich?
Auf jeden Fall. Ich habe, weil mich das interessierte, mit Hilfe alter Haushaltspläne mal grob überschlagen, wie viele unserer finanziellen Probleme eigentlich hausgemacht sind. Die Antwort: nicht einmal 20 Prozent. Über 80 Prozent der finanziellen Sorgen verdanken wir vor allem Bund und Land. Ich lasse bereits seit 2011 eine Liste der Konnexitätsverstöße anfertigen, fortschreiben und weise aus, was uns diese Verstöße jährlich kosten. Der aktuelle Wert liegt bei rund 60 Millionen Euro brutto pro Jahr.
„Über 80 Prozent der finanziellen Sorgen verdanken wir vor allem Bund und Land.“
Wenn man nun auch die Mehreinnahmen durch Gesetzesbeschlüsse gegenrechnet, zum Beispiel das, was bei uns durch den künftigen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Grundschulen an Elternbeiträgen voraussichtlich ankommt, sind es netto bestimmt trotzdem noch 40 Millionen Euro an Haushaltsbelastung. Wenn wir diese Summe zusätzlich hätten, gäbe es in Solingen kein Haushaltsproblem. Punkte wie dieser machen mich fertig.
So geht es für Kämmerer Weeke weiter
Wieso haben Sie denn ausgerechnet jetzt beschlossen, die Kämmerei zu verlassen?
Ich wollte nicht warten, bis andere feststellen, dass ich irgendwann nicht mehr den nötigen Elan für die Stelle als Kämmerer mitbringe. Für mich ist es besser, jetzt eine andere Aufgabe bei der Stadt zu übernehmen, und für die Stadt gut, einen frischen Kämmerer zu bekommen. Die Technischen Betriebe Solingen brauchen Verstärkung, das trifft sich gut. Dort werde ich als erster Betriebsleiter die kaufmännischen Aufgaben übernehmen, mein Kollege Martin Wegner wird Technischer Betriebsleiter. Unser Aufgabengebiet ist groß: Neben der Abfall- und Abwasserentsorgung und einem Müllheizkraftwerk gehören auch die Grünflächen, Wege, Straßen und Friedhöfe in Solingen dazu.
Welchen Typ Kämmerer braucht die Stadt Solingen jetzt?
Die Stadt Solingen braucht eine Frau oder einen Mann, die oder der sich im Finanzbereich einer Kommune sehr gut auskennt. Denn den Haushaltsausgleich zu erreichen wird eine Daueraufgabe bleiben. Natürlich sollte sie oder er führungserfahren und durchsetzungsstark sein. Sehr wichtig ist auch das Engagement im Aktionsbündnis und im Städtetag: Nur so kann die Stadt beim Bund und beim Land etwas erreichen. Meinen Schilderungen haben Sie sicher auch entnommen, dass der neue Solinger Kämmerer eine hohe Frustrationstoleranz mitbringen sollte (lacht). Es sollte aber auch jemand sein, der nicht die Brechstange ansetzt, sondern überzeugt und ausgleicht. Denn Haushalte sollten nach Möglichkeit immer von breiten Mehrheiten im Rat getragen werden.
Info
Dieses Interview ist zuerst in der Ausgabe 4/2021 von Der Neue Kämmerer erschienen.Mehr zu den Themen Karriere, Coronakrise und Flüchtlingskrise finden Sie auf unseren Themenseiten.